Fiammetta de Bornelh an den Tasten. Um euch ein bisschen zu verwirren, kommt nach der zwei die fünf. Im Folgenden also eine schriftliche Zusammenfassung meines Vortrags „Darstellung von Asexualität in deutsch- und italienischsprachigen Zeitungsartikeln von 2005 bis heute“. Sie fällt recht lang aus; wer sie sich zu Gemüte führen möchte, möge hier weiterlesen.

Erst einmal das Korpus
Deutsch:

Und Italienisch:

Übersetzungen aus dem Italienischen im Folgenden alle von mir selbst

Erste Frage an die Texte: Wer kommt zu Wort?
5 von 8 deutschen Texten arbeiten mit Protagonist_innen (asexuellen Menschen, die von ihren eigenen Erfahrungen berichten), ebenfalls 5 von 8 zitieren Expert_innen (Fachleute aus der Psychologie, Medizin u. ä., die sich mit Asexualität befassen). In 2 Artikeln kommen sonstige Personen zu Wort. Im Italienischen bietet sich das folgende Bild: Arbeiten mit Protagonist_innen in 1 von 8 Artikeln, Zitieren von Expert_innen ebenfalls in 1 von 8; 6 von 8 geben Aussagen sonstiger Personen wieder.
Auf die italienischen Artikel scheint insgesamt weniger Sorgfalt verwandt worden zu sein, mehrfach wird aus älteren Artikeln, gern auch englischen, zitiert. In Deutschland hat die Meinung des Sexualwissenschaftlers Volkmar Sigusch einiges Gewicht (in 3 Artikeln kommt er zu Wort), ein italienisches Pendant scheint nicht zu existieren.

Zweite Frage an die Texte: Wie wird Asexualität definiert?
In den deutschen Artikeln: Welt 1/16 verwendet internationale AVEN-Definition „keine sexuelle Anziehung“, Web.de 12/11 spricht von „fehlendem Verlangen nach sexueller Interaktion“ (Definition AVENde), ansonsten Umschreibungen wie „keine Lust auf Sex“, in Taz 6/05 findet sich mehrfach ein irreführendes „keine Sexualität leben“.
In den italienischen: Psicologia Gay 2010 verwendet die Formulierung „Person, die keine sexuelle Anziehung empfindet“, ansonsten Umschreibungen wie „keinerlei sexuelles Interesse an anderen Menschen“.

Dritte Frage an die Texte: Was wird besonders hervorgehoben?
Hier wurden große Ähnlichkeiten zwischen den deutschen und den italienischen Texten festgestellt.

  • Gegensatz Asexuelle / stark sexualisierte Gesellschaft
  • Erstaunliches Phänomen: asexuelle Männer
  • Erfahrungen Asexueller: Empfinden als anders als andere, Beziehungsprobleme, Sex ist nicht angenehm, Existenz einer Community ist wichtig / Ich bin nicht allein, Leid bzw. „trotzdem glücklich“
  • Betonung der Verhaltensebene (Nichtpraktizieren von Sex)

Vierte Frage an die Texte: Welche Verwechslungen und Ungenauigkeiten lassen sich feststellen?
In den deutschen Artikeln:

  • Asexualität = keine Libido, keine Erregbarkeit
  • Asexualität = Leben ohne Sex*
  • Asexualität ist eine Entscheidung
  • Asexualität hat immer eine bestimmte Ursache (z. B. Krankheit, Beziehungsprobleme)
    * Taz 6/05 vermischt das Thema Asexualität mit dem Thema Absolute Beginners; beide Gruppen „leben keine Sexualität“

In den italienischen:

  • Asexualität ist eine Entscheidung / Ideologie
  • Alle asexuellen Menschen können problemlos Sex haben

In den deutschen Texten ist die Tendenz zur Pathologisierung stärker, außerdem wird viel mehr auf Libido und Erregbarkeit eingegangen. In den italienischen Artikeln lassen sich deutlichere religiöse/spirituelle Töne feststellen.

Fünfte Frage an die Texte: Wo finden sich eindeutig negative, beleidigende Aussagen?
Deutsche Artikel:

  • Taz 6/05: „Asexuell“ wird stets in Anführungszeichen geschrieben; Klientel des deutschen AVEN-Forums wird beschrieben als „Verweigerer, Klemmis, Traumatisierte“; Fragen zur Asexualität auf der Hauptseite sind ein „Frage-und-Antwort-Bogen […] der in seiner Definitionswut mitunter leicht komische Züge trägt“; etc.
  • WAZ 2/06 zweifelt an der Notwendigkeit der Existenz einer asexuellen Community

Italienische Artikel:

  • Giornalettismo 7/08 geht davon aus, dass Asexuelle sich unbedingt als etwas Besonderes fühlen möchten und daher behaupten, diskriminiert zu werden
  • Tempi 3/13: Asexuelle sind krank (sie sollten sich am besten „Hilfe suchen“) und gefährden den Fortbestand der Menschheit, da sie keine Kinder bekommen

Übrigens: Eine negative Einstellung gegenüber Asexualität geht mit generell queerphoben Tönen einher.

Sechste Frage an die Texte: Welche sprachlichen Auffälligkeiten lassen sich feststellen?
Deutsche Artikel:

  • In den Titeln findet sich häufig das Wort „Lust“ kombiniert mit einer Negation
  • Wiederholung von „noch nie“ in Spiegel 9/12
  • Wiederholung von „nichts“ in Welt 9/13 und Welt 1/16. In beiden Artikeln Formulierung „Lieben will er/sie trotzdem“. Beide deuten im letzten Absatz an, dass die Asexualität der porträtierten Person eventuell nur eine Phase ist.

Italienische Artikel:

  • In fast allen Titeln wird das Substantiv „Asexualität“ oder das Adjektiv „asexuell“ verwendet
  • Tuttogratis 7/12 und Stile 7/15 schöpfen das Wortfeld Entscheidung / Ideologie aus („entscheiden/Entscheidung“, „verzichten/Verzicht“, „Keuschheit“, „Lebensstil“, „Paradigma“ etc.)
  • Tempi 3/13 wartet mit absurden Antithesen auf: „Das Fleischliche, Materielle wird zugunsten des Abstrakten und Geistigen aufgegeben“; „Von der Sucht z. B. nach Sex, Spiel und Essen kommt man zur völligen Unabhängigkeit von diesen Dingen (Unterdrückung des Sexualtriebs, Depression, Anorexie.“

Fazit:

  • In beiden Sprachen gibt es ein Problem der korrekten Definition und der Abgrenzung von anderen Phänomenen, teilweise wurde schlecht recherchiert
  • In Italien waren entweder weniger Interviewpartner_innen greifbar oder es wurde weniger danach gesucht; die Folge ist mehr „Fischerei“, die Artikel sind insgesamt oberflächlicher als die deutschen
  • In den deutschen Artikeln wird sich häufig zu sehr auf den_die eine_n Protagonist_in konzentriert, Aussagen der porträtierten Person werden verallgemeinert, es wird vor allem die Gefühlsebene angesprochen, Artikel sind teilweise reißerisch
  • Italienische Artikel greifen die asexuelle Community mehr an als deutsche
  • Diversität der Community / Spektrum wird fast überhaupt nicht berücksichtigt
  • Gleiche oder ähnliche Themen werden wieder und wieder aufgegriffen, Irrtümer teilweise tradiert
  • In Brigitte 6/05 heißt es „Zeitschriften und TV-Sender stürzen sich auf das Thema“. Daran hat sich bis heute nicht viel geändert; Asexualität ist nach wie vor interessant, weil exotisch.

 

 

 

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1 Comment on AktivistA 2016, Teil 5 von 5: Asexualität in Zeitungsartikeln

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