Geschichten aus dem gray-ace und grausexuellen Spektrum sind selten. Umso größer war unsere Freude, als uns die Bitte erreichte, grausexuelle Memoiren auf unserer Seite teilen zu dürfen.

Dabei bitte aufgepasst: Es geht mit einem Kopfsprung in die Lebensrealität eines schwulen Ledermannes, daher stellen wir diesem langen Text einige Inhaltswarnungen voraus. Bitte schaut sie euch gut an und entscheidet dann, ob und in welcher Situation ihr das lesen möchtet. Dennoch findet ihr hier keine erotischen Szenen.

Der Text steht außerdem unter Urheberrecht. Fair zitieren dürft ihr natürlich, aber Kopieren und Einfügen in größerem Stil ist auch für nichtkommerzielle Zwecke verboten.

 

Grey Confessions

Ganz anders als die Anderen

von Jens F.

© 2025, Jens F.

Inhaltshinweise: Nennung und Beschreibung von sexuellen Praktiken v. a. aus der schwulen Lederszene, Wiedergabe von Vorurteilen gegenüber introvertierten Personen, Wiedergabe von Vorurteilen gegenüber Personen auf dem Autismus-Spektrum, Wiedergabe von Vorurteilen gegenüber asexuellen Personen.

Der Text ist autobiographisch. Insofern wird er nicht immer die offiziell vertretene Meinung von AktivistA n.e.V. oder sonst einer Organisation wiedergeben.

Kontaktaufnahme mit dem Autor via

AktivistA n.e.V.
Schwalbenstr. 19
75181 Pforzheim
aktivista.net

Wir haben den Text als PDF gesetzt in dunkler Schrift auf hellgrauem Hintergrund zum Download für euch: Jens F.: Grey Confessions

Wenn ihr lieber online bleibt, einfach hier runterscrollen und weiterlesen.

Die Titelseite der angegeben Broschüre: "Grey Confessions. Ganz anders als die anderen." von Jens F. Den Hintergrund füllt die Flagge für Grau-Asexualität, sie wurde um etwa 45 Grad gedreht und hat verwischte Konturen,

 

Grey Confessions

Ein Plädoyer für die Andersartigkeit

gewidmet meinem Mann Peter

 

Irgendein Dienstagabend 20:45 Uhr in einer Wohnung im Stuttgarter Heusteigviertel; eine Viertelstunde vor Ladenöffnung mit Happy Hour im Eagle, Stuttgarts Lederszenentreff. Wie immer ziehe ich mich hastig an, als Ledermann und Fetischist unter der Woche mit ein wenig Schwarzem, wenigstens einer Lederweste, ansonsten casual für business as usual. Mein Mann sagt mit entnervtem, aber auch resignativem Unterton: „Ach ja …, du musst ja wieder das Eagle aufschließen!“

„Bis gleich!“ entgegne ich, wohlwissend, dass ich unter der Woche nur bis 22:00 Uhr ausgehen kann. Eine Stunde Zeit für Spiel, Sport und Spaß inklusive Freundschaftspflege und Informationsaustausch.

Punkt 21 Uhr klingle ich an der Tür, werde eingelassen, ein an Mainzelmännchen erinnerndes „Gunn Abend!“ als eines meiner typischen Erkennungsmerkmale an die Dienst schiebenden Personen hinter Kasse und Tresen geschleudert, und schon entschwinde ich mit Litschi-Bionade bewaffnet in Richtung der abgedunkelten Ruhezonen.

Ich denke darüber nach, was mich eigentlich dorthin treibt. Da mir die Natur Verschlossenheit und Wortkargheit mit auf den Weg gegeben hat, muss ich mich auch in meinem zweiten Wohnzimmer erst akklimatisieren, bevor ich mich – wenn überhaupt – auf die anderen Gäste einlassen kann. Mittlerweile habe ich analysiert und nachgerechnet: In durchschnittlich 49 von 50 Fällen verlasse ich das Eagle ohne Sex. 95 Prozent aller Cruising-Ereignisse bleiben erfolglos, für einen Schwulen eine sensationell geringe Erfolgsquote. Andere bekommen dies jedes Mal und mehrfach am Abend hin. So richtig bin nur ich zu blöd zum Cruisen. Und das nicht nur in der kurzen Stunde am Dienstagabend; das gilt auch fürs Wochenende.

In einem von 50 Fällen geschieht es aber doch, meist am Wochenende kurz vor Ladenschluss. Davor habe ich die anderen Gäste aus einer dunklen Ecke heraus beobachtet; das war für mich schon Amüsement genug. Hier zeigt sich eine meiner seltsamen Macken: Ich beobachte für mich interessante Männer und stelle mir den Sex mit ihnen vor. So weit, so normal. Ich verzichte jedoch auf die Realisierung und belasse es bei der Fantasie, obwohl die Rahmenbedingungen im Eagle denkbar günstig wären. So weit, so seltsam. Oft fühlt es sich so an, wie wenn meine Begierde auf eine unüberwindliche Barriere stoßen würde und sich Gefühle im Hirn gegenseitig blockierten und sich gegeneinander ausspielten.

Viele verschwinden mehrfach im Darkroom oder in einer Kabine. Regelmäßige Eagle-Besucher kennen mich schon: Sie registrieren meine Anwesenheit und machen kein Aufheben um mich. Sie wissen genau, sexuell wird mit mir nichts laufen. Wenn es anders wäre, wäre es in der Vergangenheit schon längst geschehen. Das heißt nicht, dass sie mich nicht attraktiv fänden. Ein junger Mann gestand mir in der Dunkelzone: „Du siehst aus wie ein Pornostar. Du könntest hier jeden haben.“ Meine abgebrühte Antwort „Willst du mich umbringen?“ gibt ein beredtes Zeugnis davon ab, wie ich mit Komplimenten umzugehen pflege.

Wer mich umschmeichelt, dem vergönne ich bisweilen seinen Spaß. Ich lasse mich auf ihn ein – ihm zuliebe. Noch eine seltsame Marotte von mir: Männer, die hartnäckig scharf auf mich sind, denen gestehe ich zu, dass sie sich an mir aufgeilen können, nachdem ich sie zuvor mehrfach habe abblitzen lassen und ich meine Lust daraus gezogen habe, auszutesten, wie lange sie das mit sich machen lassen.

Wenn ihre Stimmung am Kippen ist und sie die Lust verlieren, dann lenke ich ein und gestatte ihnen, sich an mir abarbeiten zu dürfen, während ich häufig regungslos, steif und eiskalt die Aktivitäten an mir abprallen lasse; mit einem Gestus, wie wenn ich auf dem Bahnsteig auf meinen Zug warten würde – fast schon menschenverachtend. Doch mein Verehrer hat Spaß dabei und spritzt schlussendlich ab. Bisweilen fasst er seinen ganzen Mut zusammen und kommentiert das Geschehene: „Du bist unmöglich …, aber verdammt geil!!“

Mit mir Sex zu haben, scheint für viele angesichts meines niedrigen Sexualaufkommens und meiner kühlen Attitüde ein unerreichbarer Traum zu bleiben. Wer es also einmal erlebt hat, muss ein Leben lang davon zehren, weil die Umstände für eine Wiederholung viel zu ungünstig sind. Sollte man meinen.

Und dennoch existieren sie, meine Stammkunden und Wiederholungstäter. Wenn ich einen von ihnen im Eagle erblicke, wissen beide Seiten: Der Abend ist gerettet! Wie stellen sie das an? Sind sie einfach meine besten Freunde, mit denen ich auch das Bett teilen würde? Weit gefehlt! Über meine Stammkundschaft weiß ich so gut wie nichts, häufig weder den Namen noch den Wohnort. Mein dritter Spleen meldet sich zu Wort: Sexueller Reiz geht vom fremden Manne aus. Es ist, wie wenn man den spannenden, anonymen Park- und Klappensex in einer sichereren Version in der Bar simuliert. Und weil beide Seiten ihren Spaß dabei haben, belässt man es auch so. Wird man zu sehr miteinander vertraut, verliert der sexuelle Reiz an Glanz. Man wechselt vor der Aktion keine Worte, und man geht hinterher auch wieder wortlos auseinander; am besten verlässt man den Ort des Geschehens – die Bar – gleich ganz.

Meine Stammkundschaft tut sich in der Stuttgarter Szene kaum hervor: Mit dem lokalen Lederclub, in dessen Vorstand ich sitze, haben sie nichts zu tun, auch wenn sie dessen Aktivitäten vermutlich befürworten. Überhaupt treffe ich sie außerhalb des Eagles nie – weder in einer anderen Schwulenbar noch beim CSD und auch nicht einfach zufällig in der Fußgängerzone. Sie existieren für mich nur im Eagle.

Was bedeutet es überhaupt, mit mir Sex zu haben? Wie sieht das aus?

Am häufigsten scheinen die Eagle-Gäste dem „dreifaltigen“ Schwulensex zu frönen. Stufe 1: Wichsen und abwarten, was geschieht. Stufe 2: Blasen und abwarten, was geschieht. Stufe 3: Ficken, bis der Orgasmus dem Geschehen ein jähes Ende setzt.

Versierte Eagle-Gäste verzichten gerne auf Stufe 1 und 2. Bei mir verhält es sich – wie so oft – umgekehrt: Ich verzichte definitiv auf Stufe 3; die Stufen 1 und 2 stehen hingegen zur Disposition.

Der Sex von Lederfetischisten fällt in der Regel bizarrer aus. Mäßig heftige Sado-Maso-Praktiken funktionieren bei mir immer wieder ganz gut, so wie auch der ein oder andere Gegenstands- und Bekleidungsfetisch. Auffälligerweise funktioniert gerade der „penetrative“ Sex, also Analverkehr, Fisten oder Dildosex bei mir so gut wie gar nicht. Dabei halten viele Schwule diesen penetrativen Sex für den eigentlichen, „echten“ Sex, und viele Sexualwissenschaftler pflichten ihnen sogar bei. Mir wird im Eagle ab und zu die Frage „aktiv oder passiv?“ gestellt. Ich muss dann erst zurückfragen „in Bezug auf was?“; denn für mich bezieht sich diese Frage nicht wie selbstverständlich auf Analverkehr. Die Antwort wird – so wie bei mir üblich in sexuellen Fragen – eindeutig zweideutig ausfallen: In Bezug auf Analverkehr bin ich weder aktiv noch passiv, in Bezug auf SM sowohl als auch.

Welcher Rest an „Sex“, der für meine Stammkunden offenbar hoch attraktiv erscheint, bleibt denn neben SM noch übrig und wie gestaltet sich dieser? Der außenstehende Betrachter würde diesen Rest wohl am ehesten als Ringkampf beschreiben – als einen Zweikampf Mann gegen Mann. Kürzlich fragte mich ein junger Mann, der genauso komplett in Leder gekleidet war wie ich selbst, ob wir uns ein wenig „anledern“ wollten. Das bedeutete, sich mit Leder aneinander zu reiben. Für mich perfekt!

Zurück zu meinem Aufenthalt Dienstagabend im Eagle. Ich sehe einen jungen Mann im Jockstrap an mir vorbei huschen. Ich kann und will hier nicht entkleidet herumlaufen, schon gar nicht mit dem offenen Hinweis Schließmuskel mit Rosette. Warum auch sollte ich es wollen, als Lederfetischist und Analverweigerer? Der junge Mann bekommt es fertig, an einem Abend Sex mit rund sechs bis sieben Männern zu haben. Bei mir gehen maximal zwei an einem Abend, aber der Durchschnitt liegt wie gesagt bei weit unter einem Mal pro Abend.

Meine Andersartigkeit bezüglich des in Quantität und Qualität reduzierten Sexaufkommens, gepaart mit den eingangs erwähnten Charaktereigenschaften Verschlossenheit und Wortkargheit bleiben nicht unentdeckt, ignoriert oder unkommentiert.

Irgendwie schmeichelt es mir, dass ich auch nach 26 Jahren als Eagle-Stammgast noch im Gespräch bin. Diejenigen, die mich privat kennen, schon einmal meinen Mann und mich zu Hause besucht oder mit mir zusammen-gearbeitet haben, z. B. im Rahmen der Vereinsarbeit innerhalb des Lederclubs Stuttgart e. V., stellen kaum Fragen zu meiner Persönlichkeit. Sie kennen mich und schätzen in aller Regel meine logisch-rationale, effiziente Herangehensweise sowie meine Szenekenntnis. Die Fragen stellen sich diejenigen, die mich fast ausschließlich vom Sehen kennen, also beispielsweise Eagle-Stammgäste, mit denen ich bislang nicht ins Gespräch gekommen bin.

Seit meinem ersten Besuch im Eagle im Januar 1994 drehte sich die Frage darum, ob ich wohl arrogant sei, was die eine Hälfte der interessierten Gäste nicht zweifelsfrei bestätigen konnte und die andere Hälfte zu dementieren versuchte.

Im Jahre 2018 stand ich überwiegend unter Verdacht auf Depression. Seit 2019 setzt sich ein anderes, erstaunliches Paradigma durch, demzufolge ich mutmaßlich autistisch sei. Die unglaublichste Psychoanalyse, die mir jemand 2019 andichten wollte, war eine Diagnose auf Trisomie 21! Ist das meinen bisweilen verkniffenen Augen geschuldet? Im Vergleich dazu nimmt sich der Verdacht auf Autismus recht reizvoll aus. Da ich tendenziell Blickkontakte meide und mir Worte nur bei konkretem Redeanlass über die Lippen kommen, könnte man dies in der Tat vermuten. Aber dennoch registriere ich so ziemlich alles, was im Eagle in meiner Umgebung vor sich geht.

Würde mich jemand mit Ortskenntnis über die Region Stuttgart direkt fragen, ob ich autistisch sei, würde die Antwort in etwa so ausfallen: „Ich bin Kornwestheimer und kein Asperger!“

Zu dieser Diskussion will ich festhalten, dass ich kein Freund davon bin, Erklärungsansätze für abweichendes Verhalten grundsätzlich erst einmal im Bereich von Pathologien, Dysfunktionen und Persönlichkeitsstörungen zu suchen. Psychologen dürfen sich gerne nach einer anderen Lizenz zum Gelddrucken umschauen.

Wohlmeinendere Stimmen konstatieren bei mir eine gewisse Intransparenz: Ich sei schlecht einschätzbar und schwer durchschaubar. Manchmal verspürten sie je nach meiner Stimmungslage eine gewisse unsichtbare Mauer zwischen sich und mir.

Ich zeigte mich jahrelang immun gegen die immer wiederkehrenden Andeutungen, Anspielungen, Witze und Provokationen bezüglich meiner Andersartigkeit. Über mich selbst zu reflektieren, betrachtete ich als Zeitverschwendung, schließlich war ich mir meines abweichenden Verhaltens durchaus bewusst und damit im Reinen.

Ich verspürte erst einen Wendepunkt, nachdem zu Beginn des Jahres 2019 die Arroganz-Depression-Trisomie-Autismus-Verdachtsmomente inflationär zunahmen und mein Mann mich zum dritten Mal mit demselben Witz beglückte: „An Heiligabend feiern wir ein Jubiläum: 25 Jahre Ehe und 10 Jahre ohne Sex.“ Da half auch keine nüchterne Statistik als Reaktion mehr: „Im Durchschnitt hört der Sex in einer Ehe bereits nach sieben Jahren auf, also schätze dich glücklich!“ Und so begab ich mich auf eine introspektive Reise, was ich zuvor strikt abgelehnt hatte. Ich ließ mich auf eine ergebnisoffene Suche mittels ausgiebiger Internetrecherchen ein und hätte es am Ende auch akzeptiert, ein Fall für die Psychiatercouch zu sein.

Im Mai 2019 stieß ich auf den Themenkreis Introversion und blieb lange dort hängen. Erfahrungsberichte Betroffener zeigten auffällige Parallelen. Schüchternheit und Wortkargheit, mit denen ich fremden Menschen begegne, werden als mangelndes Interesse interpretiert. Schwellenängste beim Betreten neuer Schwulenbars oder im übertragenen Sinne auch beim Eintritt in neue Situationen tauchen auf, was erst einmal einer mehr oder weniger längeren Akklimatisierung bedarf, bevor ich wieder handlungsfähig werde.

Die Abneigung gegenüber größeren Menschenansammlungen lässt sich bei mir immer wieder am Fallbeispiel Folsom Europe Berlin – dem größten Leder-Fetisch-Treffen Europas – studieren. Lange muss ich mich in meinem Hotelzimmer zur Mittagszeit mit dem Gedanken anfreunden, dass es jetzt langsam an der Zeit sei, mich in Richtung Fuggerstraße zu begeben. Ich fasse ein Herz und mache mich auf. Dass ich in voller Ledermontur in einen öffentlichen Bus einsteige, daran verschwende ich keinen Gedanken. Vielmehr ist es das Unbehagen, gleich in eine große Menschenmenge eintauchen zu müssen.

Ich komme in der Fuggerstraße an der Straßenbarriere an, entrichte am Eingang meine Spende gegenüber den Schwestern des Ordens der Perpetuellen Indulgenz, empfange meinen Folsom-Aufkleber und eile ab durch die Mitte, nicht nach links oder rechts schauend, direkt zum Stand der Leather & Fetish Community e. V., bei der ich Vorstandsmitglied bin. Bevor ich die bereits Anwesenden eingehender begrüße, setze ich mich an den Rand und gewöhne mich langsam an die Situation. Etwa eine Stunde später kann auch ich die Atmosphäre genießen.

Wie die Anwesenden sich aber mit Freuden durch die Menschenmassen kämpfen und insbesondere die Titel- und Schärpenträger euphorisch ihre ein- bis zweijährige Bedeutsamkeit zwischen VIP-Bereich, Sektempfang, Podiumsdiskussion und Fotoshooting zu Markte tragen, kann ich nur beneiden. Für mich wäre es eine Horrorvision. Rein beruflich muss ich hin und wieder der Presse Rede und Antwort stehen, Vorträge auf Konferenzen und Kongressen halten oder an Podiums-diskussionen teilnehmen. Mir gelingt das ganz gut, wenn ich das Publikum um mich herum mental ausblende. Im Trubel eines Leder-Fetisch-Megaevents ist an eine solche Strategie kaum zu denken.

Apropos Leder-Fetisch-Szene: Ich war ja nun jahrelang Vorsitzender eines Lederclubs und auch des deutschsprachigen Dachverbands der nichtkommerziellen, organisierten Leder- und Fetischszene LFC e. V. gewesen. Es hat mir wie gesagt kaum Bauchschmerzen bereitet, mich anlässlich eines CSDs oder einer sonstigen LSBTIQAP+-Veranstaltung im vollen Lederornat durch die Öffentlichkeit zu bewegen und als Ansprech-, Diskussionspartner oder einfach Vertreter der Lederszene zu fungieren.

Als tadelloses Vorbild stets im Einsatz zum Wohle unserer gemeinsamen Sache dienend? Jo Pfeifedeckel und Ätschegäbele, würde man im tiefsten deutschen Südwesten sagen. Oft genug habe ich sowohl die alljährliche Leistungsschau der Leder- und Fetischszene Folsom Europe Berlin wie auch vergleichbare kleinere Veranstaltungen dahin gehend konterkariert, dass ich nur ein Mindestmaß an Fetisch trug, um gerade noch den Dresscode-Erfordernissen gerecht zu werden. Natürlich ging das nie ohne eine Maßregelung an den Einlasskontrollen: „Du weißt aber schon, dass heute Abend strikter Dresscode …“

Während die Titel- und Schärpenträger ausnahmslos in den neuesten Kollektionen von frisch gewachstem Hochglanzleder makellos im Wettbewerb auf der Bühne erschienen, hatte ich ein paar 20 Jahre alte, ungewaschene Teile an. Ich habe mir schon seit zwei Jahrzehnten nichts Neues mehr zugelegt. Und das, was ich mir angeschafft habe, stammt zur Hälfte secondhand aus Fetischflohmärkten. Meine größte Lücke im Auftritt sind Lederhemden. Ein solches Teil habe ich nie besessen. So oft ich es schon anprobiert habe, es wollte nie sitzen. Umso mehr habe ich über einen jungen Ledermann Anfang Dreißig gestaunt, den ich nacheinander auf mehreren Anlässen in vier Versionen desselben Lederhemds – in schwarz, in weiß, in rot und schließlich in blau – gesehen habe. Daraufhin sprach ich einen Kollegen der LFC e. V. auf meinen abgewetzten Lederstil an, was dieser wie folgt kommentierte: „Ja, du geizt ein wenig mit deinen Reizen!“

Manch Ledermann sah in mir aber auch eine Art Neckartalrebell, der dem Kommerz und auch der Erwartungshaltung des Mainstreams konsequent widerstand. Dummerweise war ich aber nie ein Revoluzzer. Liegt es also an einer durch tiefsitzende Introversion erzeugte Schüchternheit, dass ich mich nicht so effektheischend und verschwenderisch üppig fetischisiert präsentierte?

Die Wahrheit ist, dass mein Verhältnis zum Leder stark von meinem typischen Pragmatismus beeinflusst ist. Während andere von ihrer zweiten Haut und einer Lebenseinstellung sprechen, handelt es sich bei mir um reine Sexualbekleidung: Gehe ich zur Arbeit, benötige ich Arbeitskleidung; habe ich Sex, dann brauche ich Sexualbekleidung; usw. Pure Nacktheit wäre bei mir denkbar kontraproduktiv …

Ich war zunächst ganz zufrieden mit dem Gedanken, tiefgreifend introvertiert zu sein. Schließlich handelt es sich mehr um eine Charaktereigenschaft und weniger um ein psychisches Problem. Damit kann ich gut umgehen. Mein Gefühl sagte mir jedoch, dass die Suche zur Selbsterkenntnis noch nicht beendet sein konnte. Mit Hilfe der Introversion lassen sich bei mir viele Vorfälle menschlicher Interaktion erklären. Warum ich aber auch bei mir bekannten Menschen, in vertrauten Situationen und in der sicheren Umgebung meiner Stammkneipe Eagle unvermittelt anfange zu fremdeln, das vermag auch die Introversion nicht schlüssig zu erklären. Ganz zu schweigen von der ungesellig anmutenden Tresen-Abstinenz, die schnelle Flucht in die abgedunkelten Ruhezonen und die dort ausgelebten und bereits ausführlich beschriebenen sexuellen Macken. Es wurde mir bewusst, dass die Introversion ein umfangreiches Bündel an Symptomen meiner Andersartigkeit darstellte, nicht aber deren Ursache.

Damit melde ich mich wieder zurück zu meinem Freizeitvergnügen Eagle-Aufenthalt. Ich versuche meine bisherigen Selbsterkenntnisse zu verarbeiten. Dabei schweift mein Blick immer wieder auf die in den Ruhebereichen ausgestrahlten filmischen Stimulanzien. Bei diesen Filmen ist es bei mir wie im wahren Leben. Solange die Schauspieler sich noch verstecken und zögern, aufeinander zuzugehen und versuchen, den richtigen Moment zur Initiative abzupassen, ist die dargebotene Unterhaltung für mich interessant und elektrisierend. Wenn sich die Filmpartner dann gefunden haben und es ans Eingemachte geht, womöglich in der bewährten Abfolge des „dreifaltigen Schwulensexes“ (siehe oben) wird es für mich langweilig.

Statt um Sex kreisen meine Gedanken im Eagle nun um mein Coming-out als Schwuler. Ich war 22 Jahre alt und befand mich während meines Studiums an der Universität Stuttgart häufig im Bau KII im ersten Stock im Sprachenzentrum. Wenn es mein Hauptstudium zuließ, verbrachte ich dort viel Zeit. Ende Mai 1993, während meines zweiten Semesters, erblickte ich eines Tages auf diesem Stockwerk eine Infotafel der schwul-lesbischen Unigruppe RosaLie. Ich beschloss, bei deren nächster Sitzung am Dienstagabend im Raum der Fachschaft Germanistik vorbeizuschauen. Seitdem bezeichnete ich mich als schwul. Coming-out absolviert – kurz und bündig, schmerz- und leidenschaftslos.

Was war eigentlich vor dieser Zeit gewesen? Schule, Zivildienst, Studium, Freizeit mit Vereinssport und Musikschule. Freundschaft? Gelegentliche Treffen mit Schulfreunden für gemeinsame Freizeitaktivitäten. Erste Liebe? Fehlanzeige. Es war aber mitunter amüsant, bei Schulfreunden die Zyklen von Verliebtheit, Paarwerdung, Beziehungsroutine und Trennungsschmerz mitzuerleben.

Alles weitere im Anschluss ans persönliche Coming-out kam nach und nach von allein. Ich ließ mir Zeit damit, die Familie und Bekannte einzuweihen, weil ich es selbst nicht für bedeutsam hielt. Ein dreiviertel Jahr nach dem Coming-out besuchte ich erstmals das Eagle und blieb in der Leder-Fetisch-Szene hängen. Noch im selben Jahr lernte ich dort meinen Mann kennen.

Der nüchterne Rückblick auf mein Coming-out und mein Vorleben brachte mir zumindest eine neue Inspiration zur Fortsetzung meiner Suche nach mir selbst. Ich begann in neuen Themenfeldern zu suchen und verabschiedete mich gänzlich aus dem reinen psychologischen Dunstkreis. Und so kam es, dass jenes „Nichts an Liebe“ mich eines schönen Tages im August 2019 auf die entscheidende Idee brachte. Ich recherchierte wieder im Internet, las Erfahrungsberichte und wissenschaftliche Abhandlungen. Und was soll ich sagen? Ich war geschockt und geflasht zugleich. Diesmal war es, wie wenn eine Bombe einschlug – Volltreffer – Schiff versenkt.

Was war geschehen und was kam mir vor die Augen? Wenn man sich die Gäste im Eagle anschaut, stellt man fest, dass sie völlig unterschiedlich sind, rein äußerlich wie auch mental. Sie haben aber fast alle trotzdem einen gemeinsamen Nenner, nämlich die sexuelle Orientierung, sonst würden sie nicht die Eagle-Bar aufsuchen. Abweichungen wie etwa Bisexualität können durchaus auffallen. Abweichler erkennt man an der äußerlichen Aufmachung, an der Bekleidung, dem Fetischismus, genauso wie an Gestik, Mimik, Sprech- und Verhaltensweisen. Nicht umsonst heißt es, senden Schwule Signale aus, mit denen sie sich mittels ihres schwulen Radars, dem „Gaydar“, untereinander auf der Straße erkennen können. Darüber hinaus hatten sie bereits als Kinder das Gefühl, anders als die anderen zu sein, also lange vor ihrer sexuellen Reife. Im Prinzip treffen die Erkennungsmerkmale der Schwulen auch auf mich zu, aber nicht in derselben Typologie und Intensität.

Also ist die sexuelle Orientierung der Schlüssel zu meinen Abweichungen! Die zusammengefassten Ergebnisse sexual-wissenschaftlicher Erkenntnisse ließen mich erschaudern.

Meine berüchtigten Sexualmacken, die ich für meine ganz persönliche, eigene, exklusive Sexualität hielt, sind der Sexualwissenschaft bereits bekannt; sie sind dokumentiert und beschrieben.

Wir erinnern uns: Ich bevorzuge es, Fantasien über Sex mit interessanten Männern nicht in die Realität umzusetzen. Das nennt die Sexualwissenschaft „Autochorissexualität“ und die Community „aegosexuell“!

Dann gibt es Menschen, die ziehen sexuellen Reiz daraus, dass sie von ihrem potentiellen Sexualpartner komplett ignoriert werden. Man nennt dies „Akoisexualität“. Ich bin das nichtinteressierte Gegenstück dazu, also gewissermaßen „invers-akoisexuell“, gelegentlich auch reciprosexuell genannt.

Meine dritte Macke, die Fokussierung auf Sex mit ganz fremden Menschen, nennt sich „Fraysexualität“. Und weil bei mir nun gleich mehrere solcher Tollheiten mit eigenartigen Bezeichnungen zusammenkommen, bezeichnet man diesen Umstand auch als „Myrsexualität“.

Das hat mich umgehauen. Ich bin somit myr-, fray-, autochoris- und invers-akoisexuell. Was für ein eigenartiges Ergebnis! Zudem gespickt mit vulgärgriechischen Begriffen, von denen ich nie zuvor gehört hatte. Dabei sollte man meinen, dass ein schon 17 Jahre währendes, ehrenamtliches Engagement in den Vorstandsetagen der deutschsprachigen Leder-Fetisch-Szene hinreichend dafür gesorgt hätte, dass einem nichts Menschliches mehr fremd geblieben wäre.

In der Tat werden in der organisierten Leder-Fetisch-Szene alle Facetten menschlicher Sexualität und alle Sexualpraktiken einer kritischen Würdigung unterzogen. Jetzt wurde ich plötzlich mit Begriffen konfrontiert, von denen ich noch nie etwas vernommen hatte. Die eben genannten Formen der Sexualität nehmen sich auch ganz anders aus, als das, was man in der Schwulenszene als Sexualpraktiken mit zugehörigen Hankycodes vermittelt bekommt. Was ist hier los?

Zur Auflösung heiße ich die geneigten Leser dieser Zeilen endgültig herzlich willkommen in einer anderen Welt! Oder: Herzlich willkommen in einer anderen Dimension! Oder wie es die Insider ausdrücken würden: Herzlich willkommen auf einem anderen Spektrum! Wie auch immer: Herzlich willkommen in meiner Welt! Eine Welt, die sich jenseits der Sexualität abspielt. Dies klingt abgefahren, überirdisch, surreal, und wenn man sich meine drei (oder vier?) Macken vergegenwärtigt, trifft dies auch ein Stück weit zu. Herzlich willkommen in der Welt der Grausexualität! Ich bin grausexuell oder grey-A oder (amazing) grace!

Grausexualität hat nichts mit dem bei Schwulen vertrauten Hankycode-Konzept (Hankycode grau = Bondage) zu tun, sondern bezeichnet den Graubereich zwischen Asexualität (= keine sexuelle Anziehung) und Sexualität bzw. präziser ausgedrückt zwischen Asexualität und Allosexualität (grob: hundertprozentige Sexualneigung). Ich bin gewissermaßen nur eingeschränkt an Sex interessiert oder sexualfähig. Die vier genannten, eigenartigen Formen der Sexualität lassen sich unter dem gemeinsamen Dach der Grausexualität vereinigen und sind Teil des asexuellen Spektrums. Ich lebe also in der Eagle-Bar asexuelle Neigungen aus, so widersprüchlich dies auch klingen mag.

Dennoch bin ich nach wie vor schwul, denn ich lebe sowohl sexuelle als auch asexuelle Praktiken ausschließlich mit Männern aus. Ich verfüge sozusagen über eine Zwei-Komponenten-Sexualität bzw. gehöre im LSBTIQAP+-Spektrum gleich zwei sexuellen Minderheiten an, dem „S“ und dem „A“. Meine offizielle sexuelle Orientierung lautet demnach: Ich bin homograusexuell. Ähnlich wie Bisexualität ein ganzes Spektrum zwischen Hetero- und Homosexualität darstellt, bei dem die Betreffenden beispielsweise einschätzen können, dass sie etwa zu 60 % homo- und zu 40 % heterosexuell sind, kann auch ich verkünden, dass ich zu 60 % allo- und zu 40 % asexuell veranlagt bin. Meine Sexualneigung liegt über 50 %, folglich bin ich grausexuell und nicht etwa grau-asexuell.

Allerdings vermute ich, dass sich mein persönlicher Graubereich komplexer ausgestaltet, als es die prozentuale Verortung zwischen Allo- und Asexualität insinuiert.

Um dies zu erläutern, stelle ich folgendes mehrdimensionales Modell auf: Trennt man vom Wort „heterosexuell“ den ersten Wortbestandteil ab und ersetzt ihn durch „homo“, erhält man die beiden Pole Getrennt- und Gleichgeschlechtlichkeit, ausgehend von einem zweigeschlechtlichen Konzept aus Frau und Mann. Die beiden Extrema aus hundertprozentiger Homo- bzw. Heterosexualität lassen sich durch eine Linie verbinden, deren Punkte verschiedene Ausprägungen der Bisexualität markieren.

Heben wir nun den starren Gegensatz zwischen Frau und Mann auf, können wir die Linie in die Fläche extrudieren und erhalten Möglichkeiten, um Trans- und Intergeschlechtlichkeit zu verorten. Verlassen wir die Fokussierung auf nur zwei Geschlechter, entsteht mit weiteren Polen ein dreidimensionaler Raum, in dem auch Poly- und Pansexuelle ihren persönlichen Standort finden können.

Im Sinne der sexualwissenschaftlichen Vorstellungen über eine mögliche Fluidität der sexuellen Orientierung, sprich Veränderlichkeit über die Zeitschiene, fließt sogar die vierte Dimension in das Modell ein. Möchte man nun mit dem zweiten Wortbestandteil von „heterosexuell“ analog verfahren, stößt man schnell an Grenzen. Das Modell endet bislang zwischen den Polen Allo- versus Asexualität und der linearen Verbindung namens Grausexualität. Aus meiner eigenen Empfindungslage heraus bin ich überzeugt davon, dass mein persönlicher Graubereich in der zwei- oder dreidimensionalen Erweiterung zu finden ist.

Diesen auch für mich schwer erfassbaren Raum, den die Sexualwissenschaften meines Wissens noch nicht als Spielwiese entdeckt haben, würde ich als Infragestellung der Idee eines definierbaren Sexualitätskonzepts beschreiben, etwa so wie queere Menschen das Konzept einer Geschlechtsidentität ablehnen. Nicht umsonst sprach ich (siehe oben) von einer Welt jenseits der Sexualität.

Im Sinne einer möglichen Fluidität der sexuellen Orientierung über die Zeitschiene ist es übrigens durchaus denkbar, dass ich vor meinem Coming-out komplett asexuell gelebt hatte und dann im Zuge des recht plötzlichen Coming-outs meine andere sexuelle Komponente – die Homosexualität – entdeckte und diese stark in den Vordergrund geriet. In den letzten zehn Jahren hat sich dann ein Kompromiss aus beiden sexuellen Orientierungen – mein persönlicher Graubereich – herauskristallisiert.

Grausexualität ist bei mir ein recht mächtiges „Tool“ geworden; bisweilen überschattet sie meine homosexuelle Komponente. Ich mache sie dafür verantwortlich, dass ich allgemein nur noch wenig Sex habe, denn sie bremst sexuelle Aktivität klar aus. Darunter leidet in erster Linie mein Mann. Grausexualität fördert aber eben auch andere Verhaltens-weisen und Charaktereigenschaften zutage oder überlagert homosexuelle Klischees und Stereotypen. Ich habe einmal ein früheres Mitglied des LC Stuttgart e. V. gefragt, warum mich die Vereinsmitglieder während meiner achtjährigen Amtszeit als Erster Vorsitzender des Vereins nie als „der Präsi“ oder als „die Präsidentin“ titulierten, so wie etwa meine Vorgänger oder Nachfolger im Amte. Die Antwort lautete: „Das passt nicht zu dir!“ Stattdessen nannte man mich und nennt man mich in Stuttgart teilweise heute noch „El Presidente“.

Der Graubereich ist ein wiederkehrendes Leitmotiv. Würde man mir die Frage stellen, ob ich eher gut integriert in die Leder-Fetisch-Szene oder eher ein krasser Außenseiter sei, würde die Antwort „sowohl als auch“ lauten. Ich bin sowohl gut integriert – schließlich wirke ich seit Jahren an der Gestaltung dieser Szene als Vorstandsmitglied des LC Stuttgart e. V. und des Dachverbands der deutschsprachigen Leder-Fetisch-Szene mit – als auch krasser Außenseiter, denn wenn alles Organisatorische in den Vereinen geregelt ist, kapsele ich mich ab.

Eine Fortführung der organisatorischen und politischen Diskussionen in die Freizeit hinein ist bei mir nicht angezeigt. Auch das in den letzten Jahren zu beobachtende, schier endlose „Meet & Greet“ in der Leder-Fetisch-Szene würge ich gnadenlos ab und ziehe mich komplett zurück. Man könnte also sagen, ich sei sowohl gut integriert als auch krasser Außenseiter. Man könnte aber auch genauso gut sagen, ich sei weder gut integriert noch krasser Außenseiter. Es verschwimmt in einem Graubereich.

Wer mit mir zusammenarbeitet oder sich anderweitig auf mich einlässt, wird früher oder später mit diesem Graubereich konfrontiert. Eindeutige Aussagen und Positionierungen finden bei mir nur dort statt, wo Mathematik, Natur-wissenschaft und Logik keine andere Wahl lassen. Überall dort hingegen, wo Einschätzungen, Interpretationen, Dialektik und Diskussionen möglich oder erforderlich sind, lehne ich einseitige Positionen ab. Es existieren dann immer zu viele gewichtige Argumente für und wider, als dass ich mich einseitig festlegen könnte. Meine Einschätzung, Meinung oder Position verläuft sich im Graubereich der Polarisierung zwischen pro und contra.

Den Unterschied zwischen mir und meinem schwulen „homoallosexuellen“ Umfeld würde ich in Bezug auf Äußerlichkeiten, Habitus, Charaktereigenschaften und Verhaltensweisen mit dem folgenden Bild beschreiben. Ich vergleiche die anderen mit einem expressionistischen Gemälde. Sie wirken auf mich oft modern und trendy, bisweilen gar schrill, laut und plakativ. Die eine oder andere Fehlfarbe gehört zum Gesamtbild systemimmanent dazu. Ich hingegen bin Impressionismus: in vielerlei Hinsicht verschwommen, verwaschen, ohne scharfe Konturen. Erst der Blick auf das Gesamtkunstwerk fügt die Puzzle-stücke zu einem logischen Ganzen zusammen.

Im Alltag wird der Unterschied besonders in der Kommunikation und Nutzung sozialer Medien deutlich. Mein erstes Coming-out als Schwuler ereignete sich wenige Jahre vor der Einführung des Internets in der breiten Öffentlichkeit. Damals pflegten Schwule ihre Kontakte, indem sie sich gegenseitig selbstgestaltete Visitenkarten zusteckten.

Mit der Verbreitung des Internets verlagerte sich die Kontaktpflege immer stärker ins digitale Netzwerk. Anfangs wurden eigene Homepages zur Selbstdarstellung gebastelt. Es folgten Chatgruppen und Newsforen bis hin zu digitalen Kontaktmessen; die blauen Seiten wie Gayromeo waren geboren. Die technische Verquickung der Mobiltelefonie mit dem Internet ermöglichte Dating Apps als neue Formate wie beispielsweise Grindr.

Mit zunehmender Kommerzialisierung trat eine Verlagerung in die großen Portale von Global Players der digitalen Welt ein. Ohne Profile in Facebook und Instagram lief man Gefahr, den Anschluss zu verlieren. Es war für mich immer wieder verblüffend mit anzusehen, wie andere schwule Männer jeden neuen Technologieschritt für Kommunikation, Kontaktpflege und Selbstvermarktung nutzten. Dabei gingen sie in allen Stufen äußerst kreativ vor und schufen bisweilen in ihren Dokumenten und Profilen ganz individuelle, häufig amüsante, schrill-bunte bis homoerotische Kunstwerke. Die treibende Kraft, die eine dermaßen unermessliche Vielfalt hervorbrachte, lässt sich kurz und bündig zusammenfassen: das Verlangen nach Sex.

Mir fehlen diese Motivation und die daraus resultierende Energie. Ich gehe nur insofern mit der Zeit, als dass ich mir die Technologien mehr oder wenig ernsthaft aneigne, so dass ich mich beispielsweise in der Lage sehe, Webseiten zu erstellen und zu administrieren.

Für mich selbst nutze ich die digitalen Möglichkeiten nur spärlich, zumeist auf Geschäfts- und Vereinstätigkeiten bezogen, aber nicht, um mich offenherzig der Welt zu präsentieren. Ich beharre auf dem Standpunkt, dass ich der Welt nichts mitzuteilen habe; meinen Alltag nicht, meine Emotionen nicht, und schon gar nicht kehre ich mein Innerstes nach außen. Mein Leben, meine Denk- und Gefühlswelt verbleiben im Vagen, im Mysterium, im bereits zitierten Graubereich. Und nicht umsonst bediene ich mich mit der vorliegenden Broschüre (bzw. dieses Webtexts) eines völlig anderen, nüchternen und textlastigen Mediums, um mich hier nun doch ausnahmsweise mitzuteilen. Und schon das liegt bei mir hinsichtlich der Selbstinszenierung dicht an meiner ureigenen, engen Schmerzgrenze.

Das Coming-out als Grausexueller zog mir zunächst den Boden unter den Füßen weg, weil ich vor der Frage stand, ob mein bisheriges Leben aus einer Mischung aus Irrtümern und Lebenslügen aufgebaut war. Sehr schnell aber bot es mir Halt, da ich rasch erkannte, dass die Grausexualität nur wenig ausschließt und im Gegenteil sehr vieles in ihren Graubereich integrieren kann. Die gleichzeitige Homosexualität in Verbindung mit Lederfetischismus funktioniert daher genauso wie die unabänderliche Liebe zu meinem Mann; ein Aspekt, der in der ganzen Betrachtung nie zur Debatte stand. Die Grausexualität bietet mir einen Erklärungsansatz für meine sexuelle wie auch meine nicht-sexuelle, soziale und gesellschaftliche Andersartigkeit.

Bestimmt würden Teile meines schwulen Umfelds den Zusammenhang zwischen meiner sexuellen Orientierung und meiner Andersartigkeit in der genannten Dimension und Intensität anzweifeln. Das bleibt ihnen vorbehalten. Ein weiterer Teil, mit dem ich gut befreundet bin, wird mein Anderssein gar nicht so sehr überbewerten. Manchen, mit denen ich in der Szene zusammenarbeite, ist es schlicht noch gar nicht sonderlich aufgefallen, da die Kooperation bislang gut funktionierte und die Kontakte eben auf diese Zusammenarbeit beschränkt waren.

Wie auch immer, ich selbst hege keine weiteren Zweifel und befinde mich nach der zweiten Coming-out-Phase in einem recht stabilen seelischen Gleichgewicht. Die Reise auf der Suche nach mir selbst hat ihr (vorläufiges?) Endziel erreicht. Gnṓthi seautón – Mission erfüllt. Dennoch fühlt es sich seltsam an, wenn man 48 Lebensjahre dafür benötigte, um in einem stark sexualisierten Umfeld seine eigene sexuelle Identität zu erkennen.

Mein eingangs erwähnter fiktiver Eagle-Besuch am Dienstagabend zur Happy Hour ist schon längst zu Ende gegangen. Dann kann ich auch wieder zur Tagesordnung über-gehen.

Vielen Dank für Euer Interesse!

Jens F.

 


P.S. 1: Trotz meiner Andersartigkeit lässt sich meine emotionale Nähe zur schwulen Leder-Fetisch-Szene nicht verleugnen. Darum habe ich beim Verfassen dieser Zeilen auch auf das in nicht-binären Spektren unübliche generische Maskulinum nicht verzichtet.

P.S. 2: Ich danke dem Verein AktivistA n. e. V. für seine Publikationen im Internet, die mir wesentlich zu meinen Selbsterkenntnissen verholfen haben.

P.S. 3: Ob ich auf mein Anderssein jemals „stolz“ im Sinne des Pride-Gedankens sein werde, wage ich zu bezweifeln. Das würde zwar vielleicht zu den ungewöhnlichen Gegebenheiten passen, nicht aber zu meiner Person. Auf nachfolgender Abbildung zeichnet sich jedoch schon ein guter Anfang ab.

Portrait des Autors - wißer Mann mit Bart, umgedrehter Baseballkappe und blau verspiegelter Sonnenbrille, umgeben von verschiedenen Pride-Flaggen: Regenbogen, Lederfetisch, Grau-Asexualitäten, Fraysexualität, Aegosexualität, Myrsexualität, Lithsexualität.

 

© 2025, Jens F.


Flaggenerklärgrafik zum Beispiel bei Reddit.

Diese Seite steht unter CC BY-SA 4.0.
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