CN: Body Horror (?), Acefeindlichkeit, Erwähnung von Alkohol, Essen, Wortwitze
Halber Mann
Chris
„Wie, du bist demi? Heißt das nicht halb? Haha! Bist du dann nur ein halber Mann?“, meinte Hannes, mein Kollege, als wir gerade vor der Kaffeemaschine standen.
Und – zack – da war ich ein halber Mann. Verlegen kratzte ich mich am Nacken. „Haha, nein, das heißt …“
„Oh, hoppla war ich das jetzt?“, unterbrach Hannes mich. „Ach, ist ja auch egal, ich mach mal weiter. Muss ja, ne? Mach’s gut!“, und schon verschwand er wieder in seinem Büro.
Ich sah an mir herab. Ich schien wirklich nur halb zu existieren. Irgendwo in der Mitte, von oben nach unten längs einmal durch. Dahinter nix. Zwischendrin waberte irgendwas Schwarz-Grau-Weiß-Lila-Schimmerndes. Komisch irgendwie.
„Na ja, was soll’s“, dachte ich mir, „so muss ich jetzt wenigstens nicht groß mit Erklärungen ausholen …“
Ich war froh, dass ich heute nur halbtags arbeiten musste, und ich jetzt Feierabend machen konnte. Also zog ich nochmal die Schnürsenkel meiner Halbschuhe straff und machte mich auf den Heimweg.
Blöderweise fuhren keine Öffis nach Hause. Da war mal wieder die halbe Straße aufgerissen wegen irgendwelcher Bauarbeiten. Also musste ich zu meiner Wohnung in einer Doppelhaushälfte laufen. Die lag am Stadtrand, so halb in der Natur.
Und so lief ich nun die Straße lang.
Leute, die mich sahen, sagten sich: „Da geht er hin, der halbe Mann.“ Kinder, die mit dem Finger auf mich zeigten, so halbe Portionen, wurden von ihren Eltern weiter geschoben, die ihnen in halber Lautstärke, grade so, dass ich es hören konnte, zuflüsterten: „Schau da nicht hin, das ist ein halber Mann!“
Mein Weg führte mich am Rathaus vorbei.
Auf dem halbrunden Platz waren die Fahnen auf Halbmast. In einem Straßencafé wurde ein Fußballspiel übertragen. Es war wohl grade Halbzeit.
Bauarbeiter, die gerade mit einem Presslufthammer den Straßenbelag entfernt hatten gönnten sich zur Pause ihre halbe Bier …
In einem Hauseingang auf der anderen Straßenseite winkte mir ein Junge zu und rief etwas, das allerdings im Bass eines vorbeifahrenden Autos unterging, das die Fenster halb heruntergekurbelt hatte. „Was’n Vollpfosten. Die halbe Lautstärke hätte es auch getan“, dachte ich mir und sah noch, wie der winkende Junge von seiner Mutter in den Halbschatten des Treppenhauses gezogen wurde. Ich kann ja mit Kindern nix anfangen, aber anscheinend übe ich auf diese gerne mal eine Faszination aus. Keine Ahnung, warum.
Der kleine Timmy war gerade mit seiner Mama vom Einkaufen zurückgekommen und als diese noch im Eingangsbereich des Hochparterres mit dem Schlüsselbund kämpfte, blickt er noch einmal zurück zur Straße. Dort sah er etwas sehr Interessantes. Eine Person, nein … irgendwie … bunt. Wabernd … waren das Schuppen? „Mama, guck mal! Der Mann da ist total bunt!“, rief er durch den nun geöffneten Türrahmen hinein und begann der Person zu winken. Doch die Mutter warf nur einen kurzen Blick nach draußen und auf den halben Mann, der da unter dem grauen, halb bewölkten Himmel dahintrottete und bewegte ihr Kind halb durch Ziehen, halb durch Drücken in die Wohnung. Während sich die Mutter ans Verräumen der Einkäufe machte, kletterte Timmy auf die Küchenarbeitsfläche und blickt durch das Küchenfenster nochmal auf die Straße… er sah gerade noch, wie etwas Lila… Beschupptes? … hinter der nächsten Straßenecke verschwand.
Schließlich kam ich zu Hause an. Das Treppenhaus mal wieder halb zugestellt quetschte ich mich in den ersten Stock. Wohne natürlich auf halber Höhe.
Die Klamotten über die Lehne geworfen ließ ich mich mit einem lauten Seufzer auf eine Sofahälfte fallen. Kaum, dass ich da lümmelte und etwas zur Ruhe kam, regte sich etwas in dem bunten Wabern meiner noch sichtbaren Körperhälfte …
„Mmmmöööööääääähhhheeendlich zu Hause!“, sagte Edgar, der sich wie zähflüssiger Sirup aus der Schimmerschicht formte und langsam seine volle Gestalt annahm. „Ich kann nicht fassen, was der Hannes da schon wieder abgelassen hat.“ Er schüttelte irritiert seine Rückenschuppen. An dieser Stelle ist es vielleicht angebracht, etwas von Edgar zu erzählen. Edgar ist mein Drache. Ich weiß nicht, wie wir uns kennenlernten. Ich glaube, er war eigentlich schon immer da. Er ist keiner dieser großen, roten, feuerspeienden Drachen, wie man sie sich so vorstellt. Kein Feueratem, kein Giftatem, auch keine Blitze oder Eis waren sein Ding. Keine grünen, gelben oder blauen Schuppen. Nein, Edgar war ein Lila Drache, seine Spezialität war ein Knoblauchatem. Damit konnte er alles, was davon in Mitleidenschaft gezogen wurde, in perfektes, krosses Knoblauchbrot verwandeln. Eine wahre Gabe! Nebenher war Edgar auch ein begnadeter Bäcker, nur die Heuschnupfenzeit war manchmal etwas problematisch, da freuten sich dann die Nachbarn über spontane Brotkorb-Geschenke.
„Weißt du was?“, fragte er mit entschlossenem Blick. „Der Nächste, der dir so dumm kommt, der wird von mir gebrotet! Aber so was von! Aber komm, ich lass dir jetzt erst mal ein Vollbad ein. Dann entspannst du ein bisschen, bevor nachher die Gäste kommen.“
„Au ja, gerne!“ erwiderte ich. Edgar weiß einfach, was ich brauche. Da macht er keine halben Sachen. Ich wendete mich derweil der Zeitung zu. Vielleicht sollte ich doch mal einen Vollzeit-Job annehmen? Dann wäre ich auch weg von dem Kollegen … Ich überflog die Stellengesuche, während ich hörte, wie im anderen Zimmer plätschernd das Badewasser einlief und Edgar was von „Mmh, noch eben lüften …“ in sich hinein murmelte. Ein Full-Stack-Entwickler wurde gesucht, das wäre doch was. Ich las die Stellenbeschreibung: „Bewerber darf nicht älter als 18 sein, muss mindestens 20 Jahre Berufserfahrung mit bringen …“, immer wieder derselbe halbgare Blödsinn. Mit halbem Auge fiel mein Blick auf die Heuschnupfen-Mittelchen-Werbung … Ach, war es mal wieder so weit?
Ich sah nicht, wie die Stichflamme aus der Badtür schoss, ich hörte nur ein lautes Niesen, das kurz alles übertönte, bis an meine Ohren wieder das Plätschern des Wassers drang. Verlegen erreichte mich Edgars Stimme „Duuu? Weißt du noch, dein Lieblingsshampoo? Das mit der schwarzen Flasche? Ähhm … sorry. Ich öööh … leg’s mal in den Ofen zum Warmhalten für später, okay?“ Er lief sichtlich berührt mit vollen Händen an mir vorbei, während ich mich ins Bad aufmachte. Ich öffnete einen Wandschrank und nahm von der dort ringelassenen Palette die nächste der gelagerten 250 Shampooflaschen, drehte den Wasserhahn ab und stieg wohlig seufzend in die Wanne, während aus der Küche ein „Uuuuh, Vollkorn!“ ertönte.
Es war Vollmond, und da passieren ja immer die seltsamsten Dinge. Genau deswegen hatte ich auf den Abend hin zur vollen Stunde meine Freunde eingeladen. Nein, nicht zum Volllaufenlassen! Ein Filmabend stand auf dem Plan. So trashige Klassiker wie „Voll normaaal“ oder „Werner – Volles Rooäää!!!“ Auch waren ein paar der Gäste Wrestlingfans und äußerten den Wunsch, ob man das aktuelle Match verfolgen könnte. Ich bin jetzt nicht so der Fan von Vollkontaktsport, aber da es anscheinend ein Halbfinale war, konnte ich dann doch voll mitfiebern.
Während Edgar für das leibliche Wohl sorgte (an Knoblauchbrot mangelte es nicht und er hatte dann zur Vorsicht doch noch Heuschnupfenpillen genommen), unterhielt ich mich angeregt und auf die Couch gekuschelt mit einigen Leuten. „Ach, lass dich nicht nieder machen. Ist doch nur halb so schlimm. Der Hannes, den brauchst du nicht für voll zu nehmen“, sagten sie mir. Und ich musste ihnen recht geben.
„Ja, ich glaube der ist sowieso auch voll ausgelastet mit lauter anderem Kram. Der hat nicht mal halb soviel Kapazität für Self-Care wie ich. Eigentlich tut er mir schon fast leid“, überlegte ich laut.
„Und du bist viel zu nett. Beim nächsten Mal brote ich ihm trotzdem eins über!“, warf Edgar ein, der eben Kaffee auffuhr. Wer mochte, konnte diesen auch mit Vollmilch genießen.
Kurz darauf folgte Kuchen. Voll-Nuss! Voll gut!
Schließlich wurde beschlossen, noch etwas Musik aufzulegen. Kurz wurde überlegt, ob man Vol(l)ksmusik hören möchte, aber das fanden wir dann doch zu albern. Es wurde Vol(l)beat.
Aber auch ein vollkommener Abend muss irgendwann sein Ende finden. Und so standen wir zum Abschied noch alle im Treppenhaus herum. „Ach, Freunde, was wäre ich bloß ohne euch! Schön, dass ihr für mich da seid. Ohne euch wär’ alles nicht mal halb so schön.“
Und so sahen sich meine Freunde an und mit einem „Aber du weißt doch, irgendwie sind wir immer bei dir“, sprangen alle gleichzeitig hoch zu einem großen Gruppen-High-Five.
Was nun passierte, kann man glaub ich nur noch mit Begriffen aus der Internet- und Nerdkultur beschreiben … Man kann sich das vorstellen wie eine Kombination aus einer Magical-Girl-Transformation-Szene und dem hin und her Verschieben einzelner Teile eines Transformers, wenn er seine Gestalt ändert. Es waren sehr viel helles Licht und Bänder? und Zahnräder? involviert. Kurz war mir so, als wäre auch mal eine Sailor-Uniform aufgeblitzt. Während ich gebannt beobachtete, was dort passierte, gesellte sich Edgar an meine Seite und drückte mir mit einem „mmh, hier halt mal …“ einen Teller Knoblauchbrot in die Hand. Ich ließ das geschehen und starrte nur mit offenem Mund, wie sich vor mir … meine zweite Hälfte gebildet hatte.
„Ahh, ich glaube, hier kann ich auch noch was beitragen“, meinte Edgar, während er die beiden seltsam schimmernden Flächen berührte, die meine Hälften voneinander abtrennten. Langsam wurden wir aufeinander zu gezogen …
Wilhelmine Stiegensteiger, ihres Zeichens erste Vorsitzende des örtlichen Vereins der Häkelnden und Wäscheklammersammelnden e.V. wollte sich grade der Untersuchung eines neuen Wäscheklammermodells mit doppelt gespleißtem Holzrahmen und äußerst interessanter, vierfach gespulter Federkonstruktion widmen, als sie gewahr wurde, dass durch ihren Türspion ein äußerst helles Licht drang. Neugierig legte sie ihr Vergrößerungsglas und das Untersuchungsobjekt zur Seite, erhob sie sich aus ihrem Ohrensessel, strich die extra gehäkelten Deckchen für die Armlehnen und die Sitzpolster glatt und ging zur Tür. Als sie die Türklinke in die Hand nahm, war das helle Licht bereits verschwunden. Im Treppenhaus fand sie ihren Nachbarn vor, der sich mit ungläubigem Gesichtsausdruck mit einer Hand abtastete. Den Mann, der schon seit geraumer Zeit die Wohnung gegenüber bewohnte, fand sie zwar manchmal ein wenig eigenbrötlerisch, aber kannte ihn ansonsten als vollkommen netten und zuvorkommenden Menschen.
„Oh, guten Abend! Haben sie was verloren?“
Erst jetzt bemerkend, dass noch jemand ins Treppenhaus getreten war, sah ihr Nachbar zu ihr auf. „Nein … ich dachte, mir fehlt was, aber … ich hab doch alles zusammen. Alles gut.“ Sein Blick fiel auf den Teller in seiner Hand und seine Stirn kräuselte sich kurz nachdenklich. „Möchten Sie vielleicht etwas Knoblauchbrot? Ich hab etwas zu viel gemacht … und hier …“, er streckte ihr den Teller hin, „das ist sogar Vollkorn!“
Das Wochenende vorbei, trat ich am Montag vollkommen erholt wieder den Dienst an. Hannes wartete bereits am Kaffeevollautomaten auf mich. „Du, sorry nochmal wegen der Demi-Sache. Aber weißt du was? Ich hab gelesen, das gehört zur Asexualität … und weißt du, was man von der Asexualität so sagt?“
Ich sah aus dem Augenwinkel einen lila Schatten und riss die Augen weit auf. Oh nein. „Nein! Sag es nicht!“ Mir wurde schwummrig,
„Man sagt, das ist …“ – Schuppen stellten sich hinter Hannes auf, Die Welt wurde transparent. – „… die unsichtbare Orientierung! Haha, da guckst du was? Ähh … wo isser hin? Hallo? Eben stand er doch noch da. Und … mmh … was riecht hier eigentlich so intensiv nach Knoblauch?“
© 2023 bei Chris
Tolle Geschichte! Mir gefällt die Metapher des „halben Mannes“, und was ihn am Ende wieder ganz macht. Dass es kaum an Drachen und Knoblauchbrot gemangelt hat, gibt auch ganz dicke Pluspunkte 😀
Bin zum ersten Mal auf dieser Seite hier und deine Geschichte habe ich mir als erstes durchgelesen 🙂