Kategorie: Asexualität

Konferenz zum Zehnten

Und schon wieder eine Konferenz vorbei – diesmal mit Kuchen und für ein paar Verwegene sogar mit Blubberalkohol, immerhin war es die zehnte.

Auch diesmal hatten wir die Weissenburg in Stuttgart als Veranstaltungsort und wurden nett empfangen.

Der Samstag

Der Einstieg gestaltete sich etwas chaotisch, denn die Pizzabestellung dauerte und landete dann erst im digitalen Nirgendwo, bevor sie an der richtigen Handynummer angelangte. Und so richtig frisch schmecken zwei Stunden alte Pizzen dann auch nicht mehr … Ein Punkt, an dem wir eindeutig nachbessern müssen.

Danach konnten wir aber fast pünktlich mit einer Vorstellungsrunde beginnen und es ging inhaltlich in die Vollen.

Zum Inhalt: Im ersten Vortrag geht es um Konversionsmaßnahmen, Folgen wie Traumatisierungen u. a. werden erwähnt. Im vierten Vortrag verwende ich als Beispiele heteronormative Stereotype und Phrasen.

 

Vortrag 1: Das Forschungsprojekt „Unheilbar queer“

Ein paar Menschen erinnern sich vielleicht: Letztes Jahr hatten wir den Link zu einer Umfrage geteilt, die ein von Mosaik Deutschland e.V. und der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung finanziert wurde. Es ging bei der Befragung um Konversionsmaßnahmen. Konkret sind das alle Handlungen, die darauf zielen, die sexuelle Orientierung oder das Geschlecht eines Menschen in ein cis-heterosexuelles Raster zu zwingen. Als Referent hatten wir die damalige Projektleitung Dr. Klemens Ketelhut gewinnen können.

Klemes Ketelhut berichtete zunächst allgemein von den Startschwierigkeiten und Umständen des Projekts. Beispielsweise sei festzustellen, dass Verbote von „Umpolungsversuchen“ in den USA und Kanada schon seit einer Weile größer auf der Agenda standen als im deutschsprachigen Raum. Dies liege einerseits daran, dass größere Organisationen wie der LSVD eher Bürgerrechte wie die Ehe für Alle statt Emanzipation auf dem Zettel hatten. Zudem gibt es in den USA größere, vor allem christlich geprägte Anbieter, die ihre Camps und Kurse aggressiv bewerben. In Deutschland tat sich vor 2020 „Wüstenstrom“ mit Werbung für ihre Kurse hervor. Meistens handelte es sich aber in Deutschland um unter der Hand weitergegebene Adressen von kirchlichen Einrichtungen oder therapeutischen Praxen. Für halbwegs ordentliche Dokus empfahl Klemens die ARD-Mediathek unter dem Suchbegriff „Die Schwulenheiler“.

Das Team von Mosaik hatte auf etwa 200 Menschen gehofft, die ihren Online-Fragebogen ausfüllen – am Ende hatten sie über 3000 auswertbare Datensätze. Klemens Ketelhut ging auf die Fehlstellen ein: So gab es Schwierigkeiten, Menschen über 70 zu erreichen (da alles online war) oder Personen, die wenig Community-Anbindung haben. Es wurde wie so oft bei Online-Umfragen eine leichte Frauen-Lastigkeit festgestellt, außerdem sind Personen mit Migrationsgeschichte unterrepräsentiert. Ace und aro Erfahrungen konnten nicht auseinanderdividiert werden. Aus Zeit- und Geldgründen wurden auch keine Erfahrungen mit Arbeitsstellen oder aus institutioneller Unterbringung (wie z. B. Kinderheimen) abgefragt.

Erste Ergebnisse können Interessierte bei der BzgA abrufen, allerdings fehlt Geld, um die Daten detaillierter zu analysieren. Aus diesem Grund können wir hier auch keine weiteren Grafiken teilen.

Nachdrücklich zeichneten sich die oft späten Coming-outs bei Aces und die Pathologisierung von Asexualität in Psychotherapiekontexten in den Ergebnissen zu den Orten ab, wo Menschen Konversionsmaßnahmn nahegelegt werden. Eindrücklich auch die Grafik, wie oft Betroffene organisierter Konversionsmaßnahmen über langfristige Nachwirkungen berichten. Darunter vor allem Depressionen, Suizidgedanken, posttraumatische Belastungsstörungen und Schwierigkeiten, emotionale Nähe zuzulassen.

Aus dem Personenkreis, der die Studie als Beirat begleitete, hat sich eine eigene Gruppe gebildet, die Forderungen an die Politik aufgestellt hat. Die Forderungen könnt ihr auf der Projektseite einsehen und bei Interesse auch noch als Privatperson oder Organisation mit unterzeichnen.

Vortrag 2: Acing Comics

Nach der Mittagspause stellte eggy ein in Deutschland selten beackertes Forschungsgebiet vor: Comics.

Comics, so eggy, seien an sich ein gute Medium, um queeres Erleben festzuhalten: Sie seien meist nicht linear lesbar und hätten durch die Lücken zwischen den Panels automatisch Leerstellen. Diese müssen die Lesenden mit ihren eigenen Interpretationen und Ideen füllen müssen.

Dass es ace Comics gibt, ist sicher den meisten Mitlesenden bekannt. Aber wie darüber forschen, zumal als ace Person? Sobald sich eine wissenschaftlich arbeitende Person als „betroffen“ zu erkennen gibt, wird häufig noch unterstellt, sie sei zu voreingenommen für ihr Thema. Andererseits stellt Betroffenheit durchaus auch eine Zusatzexpertise dar.

Absolute Objektivität ist allerdings eine Illusion. Es gilt daher, die eigene Subjektivität zu reflektieren und transparent zu machen.

Ein besonders gutes und sogar preisgekröntes Beispiel für diese Herangehensweise sei der Aufsatz „The Affected Scholar“ von D. Schneider über einen Comic, der eine chronische Erkrankung zum Thema hat – und an der Darstellung scheitert.

Was ace Repräsentanz anging, zeigte eggy mehrere Wege auf: den offensichtlichen, wo die Figuren über ihre eigene Ace-Identität reflektieren und diese ein Thema der erzählten Geschichte ist. Den beiläufigen, wo Asexualität erwähnt wird, aber kein zentrales Thema ist. Zuletzt gibt es die Möglichkeit, Material queer zu lesen, wo es vielleicht gar nicht so intendiert war, aber viel Spielraum lässt.

Entsprechend stellte eggy für alle drei Varianten Beispiele vor.

Für die offensichtliche Erwähnung gäbe es einmal „A Quick and Easy Guide to Asexuality“ von Muldoon und Hernandez zu nennen (Link zum Verlag). Wie der Titel sagt, ist es eine Einführung ins Thema. Etwas sauer stößt eggy die Tatsache auf, dass auf der eher kurzen Strecke doch sehr viele Stereotype reproduziert würden – wenn auch, um auf diese hinzuweisen und sie zu entkräften.

Autobiographisch setzt sich Rebecca Burgess mit „How to be Ace“ mit ihrem Aufwachsen und Coming-out auseinander (auch hier der Link zum Verlag).

Ein weiteres autobiographisches Werk, das Asexualität aber eher beiläufig erwähnt, ist „Gender Queer“ von Maia Kobabe. (Hier die Page zur deutschen Übersetzung.)

Für beide Memoiren gab es eine eindeutige Leseempfehlung, da die Gestaltung sowohl künstlerisch wie inhaltlich überzeuge.

Und was ist mit ace lesbaren älteren Werken? Hier stellte eggy die Vanessa-Comics aus den 1980ern vor. Vanessa ist ein Teenie, die Geister sehen kann und denn auch mit einem Geister-Teenie namens Harold liiert ist. Damit findet sämtliche Romanze auf einer rein emotionalen Ebene statt, was eben auch asexuell lesbar ist. Angenehm falle auch auf, dass die Figur Vanessa selbstwirksam sei und niemals gerettet werden muss.

Als Quellen für neuen ace-lastigen Lesestoff schlug eggy einen englischen Artikel bei Medium.com vor. Ebenfalls auf Englisch funktioniert die Queer Comics Database.

Äußerst leckerer veganer Kuchen, daher im Bild nur Reste.

Vortrag 3: Asexuelle Identitätsbildung

Nach einer Runde Kuchen stellte Juju Kiesow die eigene Masterarbeit im Bereich der Soziologie vor. (Link zur PDF für jene, die den originalen Text lesen möchten.)

Die grundlegende Frage der Untersuchung war: Wie werden asexuelle Identitäten gebildet?

„Identität“ ist ein viel verwendetes Schlagwort, daher musste Juju erst einmal aufdröseln, was die Soziologie unter „Identität“ versteht. Identität meint ja zunächst „gleich sein mit“, im wörtlichen Sinne.

Wikipedia schreibt zur individuellen Identität: „die Gesamtheit der Eigenschaften oder Eigentümlichkeiten, die eine Entität [also eine Wesenheit], einen Gegenstand oder ein Objekt kennzeichnen und als Individuum von anderen unterscheiden.“

Damit ist es aber nicht getan, es gibt nämlich noch kollektive Identitäten. Und genau die sind auch der Streitpunkt, wenn es mal wieder um „Identitätspolitik“ geht.

Gruppen bilden eine kollektive Identität heraus, um Einheit und ein Zugehörigkeitsgefühl herzustellen. Dazu muss ausgehandelt werden, was die Gruppe kennzeichnet und verbindet. Meist wird davon ausgegangen, dass das Kollektiv eine gemeinsame Geschichte und eine gemeinsame Zukunft hat, und oft berufen sich Gruppen auf einen gemeinsamen Ursprung.

Der Witz ist nun, dass Menschen oft vergessen, dass jegliche Identität gesellschaftlich, prekär und kommunikativ ist. Was bedeutet das? Identität ist abhängig von der Kultur und Gesellschaft, in der wir leben. Sie entsteht durch Kommunikation und wird durch diese bekräftigt und bestätigt. Da sie permanente Aushandlungssache ist, ist sie eben nicht statisch. (Beispielsweise ist die kollektive Identität „preußisch“ mittlerweile überholt, war aber machen Menschen gewiss einmal sehr wichtig.)

Die Tatsache, dass Identität nicht eine einmalig festgelegte Sache ist, wird aber oft vergessen. Der gemeinsame Ursprung wird daher manchmal als „natürlich“ angenommen, obwohl er gesellschaftlich entstanden ist. Nationen und Volksstämme sind Produkte gesellschaftlicher Aushandlungen. Die Welt ist nicht natürlicherweise in verschiedene Völker mit bestimmten Wesenskernen aufgeteilt. Hier scheiden sich dann oft die Geister. Es gibt Personen, die sich sehr bewusst sind, dass ihre kollektive Identität eine Reaktion auf gesellschaftliche Zustände ist, und andere, die lieber der Natürlichkeitserzählung anhängen.

Sich als Gemeinschaft verstehen zu können, ist manchmal sehr praktisch. Ein Zusammenschluss von Personen, die diskriminiert werden und anhand dieser Erfahrungen eine kollektive Identität aufbauen, kann sehr hilfreich sein, um Ausschlüssen und Benachteiligungen entgegenzuwirken.

Dieses Zugehörigkeitsgefühl hat natürlich eine Kehrseite. Es entsteht schnell ein Gefühl von „wir und die anderen“ oder gar von „wir gegen die anderen“. Innerhalb der Gruppe kann es auch sein, dass Menschen als „nicht … genug“ ausgeschlossen werden.

Am Beispiel von Asexualität lässt sich das schön aufzeigen – gefühlt streiten manche von uns seit zwei Jahrzehnten darüber, wer nun asexuell ist und wer nicht. Um das Problem aus einem soziologischen Winkel zu beleuchten, hatte Juju Kiesow sich Postings im AVEN-Forum vorgenommen. Neben der Identitätsbildung in ace Kontexten interessierte, wie aus den vielen Verneinungen Sinnhaftigkeit für das eigene Leben hergestellt wird. (Zu den Verneinungen gibt es einen aufgezeichneten Vortrag von der AktivistA-Konferenz 2020 bei YouTube.) Das Verhältnis zu (Allo-)Sexualität und der LGBTIQ-Bewegung wird fast automatisch mit verhandelt.

Ein paar Dinge, die Juju auffielen: Die Diskussion über die Ace-Definition wird wenig abstrakt geführt, sondern Argumente für und gegen immer mit der eigenen Lebenserfahrung abgeglichen. (Da muss sich die Autorin dieser Zeilen mit schuldig bekennen – auf dem Weg habe ich auch schon argumentiert.)

Im AVEN-Forum überwiegen Meinungen, die sich für eine klare Grenzziehung aussprechen. Was das Forum zu einem ungemütlichen Ort für beispielsweise Aces mit Kindern machen kann. Eine gewisse Skepsis gegenüber queeren und feministischen Emanzipationsbewegungen ist feststellbar, eine Identität auf dem asexuellen Spektrum wird eher als Privatsache und nicht als politisch begriffen. Auf die gesellschaftlichen Normen reagiert die Gruppe teils mit der Aushandlung interner Normen.

Für die ace Community allgemein gilt, dass sie sich mit den gesellschaftlichen Normen in einer Form auseinandersetzt, die neues Wissen generiert, um nicht mehr sprachlos zu sein. Bestes Beispiel ist die Zerlegung von Sexualität, oder vielleicht besser Erotik, in einzelne Bestandteile, wie Libido, verschiedene Anziehungsformen, Selbstbefriedigung, Erregung und so weiter.

Vortrag 4: „A* Promise of Happiness“

Lotta und Franca vom Podcast ACE AROund the Cake beschäftigten sich mit dem gesellschaftlichen Versprechen von „happiness“, genauer gesagt mit Sarah Ahmeds gleichnamigem Buch „A Promise of Happiness“ (Link zum Verlag). „Glück“ verwenden wir hier im Sinne eines „Zustand des Wohlfühlens und der Zufriedenheit“, um den Merriam-Webster-Eintrag zu „happiness“ zu paraphrasieren.

Im Buch zeigt Sara Ahmed die gesellschaftliche Tendenz auf, gewissen Konzepten zuzusprechen, dass sie Menschen glücklich machen. Es kann sich dabei um Ereignisse, Dinge oder etwas Abstraktes handeln. (Beispiel: Die Hochzeit als „schönster Tag im Leben einer Frau“.) Diese Konzepte, denen zugesprochen wird, Menschen quasi automatisch glücklich zu machen, nennt Sara Ahmed „Happy Objects“. In der Regel lernen Menschen von klein auf, was in der Gesellschaft als Happy Object gilt. Sie übernehmen somit die gesellschaftlichen Vorstellungen von Glück und von dem, was ein gutes Leben ausmacht, sowie die zugehörigen Normen. Um beim Beispiel zu bleiben: Ich kannte in der Grundschule einige Mädchen, die sich auf ihre Hochzeit freuten.

Ich weiß nicht, ob diese Personen alle verheiratet sind, ob sie dadurch tatsächlich glücklicher wurden, und ob das Ausbleiben einer Hochzeit für sie eine Katastrophe dargestellt hätte.

Das ist nämlich der Nachteil an Happy Objects: Hier ist Vorfreude garantiert. Sie können auch zu Leistungen motivieren (wie dem Üben eines Instruments oder Sports). Und sie können uns unglaublich enttäuschen – wie diese meine Kollegin, die den Jahrestag ihrer Scheidung regelmäßig feiert.

Oder denken wir an die zahlreichen Artikel, die über den „Tabubruch“ der Soziologin Orna Donath erschienen. Denn die hatte es gewagt, Frauen zu fragen, ob sie denn als Mutter glücklich seien oder doch lieber im Rückblick keine Kinder bekommen hätten. („Regretting Motherhood“ heißt das Buch dazu.)

Menschen, die die Vorstellung zu einem bestimmten Happy Object teilen, sind laut Sara Ahmed eine „Affect Community“ – also eine Gefühlsgemeinschaft.

Und Menschen, die diese Vorstellung nicht (mehr) teilen, sind „Affect Aliens“ – am ehesten mit „Gefühlsfremde“ zu umschreiben.

Viele dieser gesellschaftlich akzeptierten Glücklichmacher sind romantisch-sexueller Natur – Hochzeiten, Verlobungsringe, erster Kuss, Dates am Valentinstag, Jahrestage der Paarbeziehung und so weiter. Sie spiegeln die amatonormative Vorstellung von der exklusiven romantischen und dauerhaften Zweierbeziehung als Lebensziel.

Sara Ahmed hätte sich in ihrem Buch also prima das Gefühl der Befremdung vornehmen können, das ace und aro Personen angesichts vieler dieser „Happy Objects“ regelmäßig befällt. Leider ist da eine Leerstelle.

Jedenfalls kein Wunder, dass sich manche Aces und Aros in vielen Kontexten wie ein Alien fühlen.

Was ist zu tun? Wahrscheinlich kommt kein Leben ohne ein Happy Object aus. Eine spontane Sammlung unter den Anwesenden ergab, dass wandern, kreativ sein, Katzen, Star Trek und sehr viel mehr ein Happy Object ohne jeden Bezug zu Amatonormativität sein können.

Der Zustand des Wohlfühlens und der Zufriedenheit ist also etwas sehr Individuelles. Es gilt, die eigenen Erzählungen anzupassen, Vorstellungen nicht zu übertragen und das Glücksverständnis möglichst zu diversifizieren.

Sonntag

Am Sonntag traf sich die übriggebliebene Runde für vier Stunden zum Plauschen. Themen und Interessen wurden gesammelt – am Ende gab es Gesprächsrunden zu Stammtischgründungen, zum Podcasten (drei Menschen von InSpektren waren nämlich auch da), zum AktivistA-eigenen Aktivismus, der durchaus noch Unterstützung braucht, und zu alternativen Wohn- und Beziehungsformen. Außerdem klopften einige gesprächs-übersättigte Menschen „Stadt Land Vollpfosten“, an einem anderen Tisch entstanden Armänder und Ringe aus Perlen.

🌈 Jetzt geht es um alles! – LSBTIQA*-Organisationen in Deutschland rufen zur Wahl auf!

Sharepic „Deine Stimme für queere Rechte – Jede Stimme zählt.“

Die Wahlen im September zu den Landesparlamenten von Sachsen, Thüringen und Brandenburg entscheiden auch über die Zukunft der queeren Communitys vor Ort:

 

Die Anerkennung und Sicherung der gelebten Realitäten von lesbischen, schwulen, bisexuellen, trans*, intergeschlechtlichen, queeren, aromantischen und asexuellen Menschen (LSBTIQA) vor Ort steht auf dem Spiel. Das gesellschaftspolitische Klima und die Entscheidungsträgerinnen bestimmen über den Schutz queerer Menschen vor Hass, Hetze, Ausgrenzung und Diskriminierung. Es geht um nichts weniger als um die Zukunft von Akzeptanz sexueller und geschlechtlicher Vielfalt!

 

Wenn LSBTIQA* attackiert werden, geht das alle etwas an, die in einer freien demokratischen Gesellschaft leben wollen.

Deshalb rufen wir die queeren Communitys, ihre Verbündeten und Unterstützerinnen sowie alle Demokratinnen dazu auf, wählen zu gehen! Dabei ist es unerlässlich, nur die Parteien zu wählen, die sich glaubhaft für Gleichstellung und Akzeptanz von queeren Menschen einsetzen, die gegen Rassismus und Fremdenfeindlichkeit einstehen und die sich gegen gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit stark machen.

 

Bei Menschenrechten darf es keine Kompromisse geben. Wir fordern ein klares Bekenntnis und einen glaubwürdigen Einsatz der künftigen Volksvertreterinnen und der Landesparlamente in Sachsen, Thüringen und Brandenburg zum Schutz der Menschenrechte von LSBTIQA. Dies ist mit rechtspopulistischen, rechtsextremen, nationalistischen und minderheitenfeindlichen Einstellungen und Parteien nicht zu erreichen.

 

Entscheidet Euch mit Eurer Stimme in Sachsen und Thüringen am 01. September 2024, in Brandenburg am 22. September 2024 für eine gemeinsame Zukunft, für Vielfalt und Demokratie: Jede Stimme zählt.

Liste der Unterstützenden des Wahlaufrufs.

Was Menschen auf Zettel schrieben

Ich hatte ja einen kleinen Nachschlag versprochen, nämlich die Beiträge von Besuchenden unseres Infostands auf der Hamburg Pride zu unseren zwei Pappschild-Fragen: Was bedeutet Intimität für dich? Wie drückst du Zuneigung aus?

Am Stand hängt ein Pappschild. Darauf steht: "Was bedeutet Intimität für dich? Wie drückst du Zuneigung aus?"

Ursprünglich wollte ich meine Auswahl an Antworten nach Themen ordnen, doch man hätte sehr viele Kategorien aufmachen müssen. Daher habe ich die Zettel einfach einmal gemischt und gebe nun in einer zufälligen Reihenfolge wieder, was darauf stand. Smileys und Herzchen wurden von den Personen selbst hinzugefügt.

  • Öfter nachfragen, wie z. B. der Tag war? Wie fühlst du dich?
  • Kleinigkeiten mitbringen, die der anderen Person eine Freude machen. Nachrichten / Notizen auf dem Frühstückstisch
  • Zusammen morgens RDR2 spielen und dabei Assam-Tee trinken 🙂
  • Intimität ist für mich nicht zwingend mit körperlicher Nähe verbunden. Es ist hauptsächlich Vertrauen und Verbindung. <3
  • Zuneigung… Habt ein Ritual, was nur ihr beide teilt!
  • Tiefe Gespräche über das eigene Innenleben
  • Grenzen wahrnehmen, Bedürfnisse akzeptieren
  • Mir trotz ADHD-Scatterbrain relevante Details (Ereignisse, Vorlieben, Abneigungen) merken
  • Bedingungsloses Vertrauen. Zweisamkeit auf allen Ebenen. Verbundenheit
  • Zusammen lachen & zusammen schweigen können <3
  • Knuddeln <3
  • Backen (essen)
  • Indem ich in meiner verrückten 60-Stunden-Woche-Routine trotzdem immer Zeit für meine Friends freihalte <3

Hamburg Pride 2024: Wechselhaft mit Sonne und Sunset-Flagge

Regenbogenflagge am Hamburger Rathaus
Wenn am Hamburger Rathaus die Regenbogenflagge weht, heißt es wieder: drei Tage Pride-Straßenfest! Unser Infostand befand sich diesmal ganz in der Nähe des eindrucksvollen Gebäudes. Gemeinsam mit Gruppen wie der AIDS-Hilfe, dem queeren Sportverein „Startschuss“ und 100 % Mensch hatte man uns auf dem Rathausmarkt platziert.
Diverse Flyer und Broschüren liegen auf dem Tisch. Zu sehen ist außerdem ein Übersichts-Blatt zu Microlabels und ein großes Glas mit Süßigkeiten.

Zusätzlich zu unserem altbewährten Informationsmaterial hatten wir diesmal unter anderem eine Auflistung von Microlabels mit den dazugehörigen Flaggen sowie einige Exemplare der Broschüre „Einblick in das Aspec“ dabei. Und Süßigkeiten für das nicht abgebildete Glücksrad! Während unserer ersten Stunden am Freitag bestand unsere Kundschaft hauptsächlich aus jüngeren Straßenfest-Besuchenden, die gern einmal drehen wollten. Für sie hatten wir schwierige Scherzfragen („Was hat vier Beine und kann fliegen? Zwei Vögel!“), während das ältere Publikum wie üblich Begriffe aus dem asexuellen und aromantischen Spektrum definieren sollte. Unsere „Glücksrad-Diensthabenden“ gaben alles, um Unsicheren auf die richtige Fährte zu helfen, und es ergab sich vielfach ein guter Austausch.
Richtig voll wurde es auch in diesem Jahr erst am Samstag nach der Demonstration; ab diesem Zeitpunkt kamen uns plötzlich auch zahlreiche Personen aus den o. g. Spektren besuchen. Viele Buttons fanden ihren Platz an T-Shirts und Taschen. Dabei war vor allem die kombinierte Aro-Ace-Flagge beliebt, die wegen ihrer Farbgebung auch „Sunset-Flagge“ genannt wird. Dies mag auch daran liegen, dass mittlerweile an vielen Ständen Merch in den Ace- und Aro-Farben erhältlich ist, während die Kombination aus beidem Seltenheitswert hat.
Eine Person war ganz verblüfft, dass es da sogar einen Verein gibt… Ja, den gibt es und das schon seit 2012! Andere konnten wir mit Informationen zum Hamburger Stammtisch versorgen. Die unangenehmen Begegnungen hielten sich sehr in Grenzen, wobei die Aussage, Gott habe Mann und Frau geschaffen und Kinder bräuchten Vater und Mutter, sonst würden sie nicht richtig erzogen, schon recht schräg war (zumal sie wenig mit dem Thema unseres Stands zu tun hatte).
Eine Aro-Flagge und eine Ace-Flagge hängen nebeneinander.
Den ganzen Freitag und die erste Hälfte des Samstags über hingen die Flaggen brav senkrecht. Am Samstagnachmittag wurden sie unruhig und mussten zusammengeknotet und beschwert werden. Wind war aufgekommen, daneben verdüsterte sich der Himmel und schickte uns gegen 19 Uhr plötzlich starken Regen. An der Hauptbühne nahm man es mit Humor und legte den Klassiker „It’s raining men“ auf, dennoch rannte das Volk in Scharen in die U-Bahn-Station. Über Nacht kippte unser Pavillon nach vorn und wurde beschädigt (beim Abbau ließ er sich glücklicherweise noch zusammenklappen). Der Sonntag war dann generell windig und kühler, aber weitgehend trocken.
Am Stand hängt ein Pappschild. Darauf steht: "Was bedeutet Intimität für dich? Wie drückst du Zuneigung aus?"
Ebenfalls eine windsichere Befestigung brauchte dieses Fragen stellende Pappschild, dessen Schnüre dazu einluden, Antworten anzuklammern. Davon waren viele so rührend oder witzig, dass ich ihnen einen eigenen Post widmen werde.
Pride-Moden: Ich habe weniger „Free Hugs“-Schilder gesehen, aber es scheint derzeit beliebt zu sein, Plüschtiere mit sich herumzutragen. Es war mindestens ein Hai sowie eine Gans unterwegs.
Und wie lief es mit der Fußgruppe? Die kam auch in diesem Jahr wieder recht spät los, weil sie weit hinten platziert war. Außerdem soll ein Teil der Demo wegen Bauarbeiten entlang der Strecke kein Publikum gehabt haben – Flaggen und Banner sind aber dazu da, dass sie jemand sieht. Die Wahl der Route (eine andere als im letzten Jahr) war vielleicht nicht die beste.

Wenn in der Binnenalster ein Regenbogen erscheint…

… steht der Hamburg Pride bevor! Auch in diesem Jahr sind AktivistA und der Ace-Aro-Stammtisch Hamburg wieder gemeinsam dabei.
Auf dem dreitägigen Straßenfest findet ihr unseren Infostand auf dem Rathausmarkt in unmittelbarer Nachbarschaft von u. a. Hein & Fiete und dem Magnus-Hirschfeld-Centrum. Auch in diesem Jahr haben wir wieder Buttons und jede Menge Infomaterial dabei und freuen uns darauf, mit euch ins Gespräch zu kommen.
Eine Fußgruppe bei der Demo wird es ebenfalls geben. Diese hat die Startnummer 118 von insgesamt 133 Gruppen, ist also wiederum recht weit hinten im Zug zu finden. Zur Orientierung: Der Truck von Adobe ist unmittelbar vor ihr platziert. Der Sammelpunkt für die Gruppe befindet sich an der Ecke Mundsburger Damm / Immenhof – weitere Mitlaufende sind willkommen.
Hoffen wir auf gutes Wetter und eine friedliche, fröhliche Atmosphäre.

Stuttgart Pride 2024: Fußgruppe sucht noch Mitlaufende & Infostand

Ace und andere Pride-Flaggen auf einer Demoparade.

Noch eine Woche bis zur Stuttgart Pride …

AktivistA hat für den Verein und Aspec*German eine Fußgruppe bei der Demo angemeldet. Willkommen sind also Aces, Aros, Apls und Allys. Falls noch wer dazukommen mag: Wir haben die Nummer 77, die Aufstellung findet in der Rotebühlstraße von 12 bis 13 Uhr statt.

Die Startreihenfolge, eine Karte und anderes findet ihr auf der Seite des Stuttgart Pride. Wichtig außerdem: Es werden zahlreiche S-Bahn-Haltestellen in Stuttgart wegen Bauarbeiten gesperrt sein, bitte plant die Zeitverzögerung bei der Anfahrt ein.

Bitte achtet auf Kleidung, die zum Wetter passt, Sonnen- und/oder Regenschutz, bequemes Schuhwerk (oder passende Blasenpflaster), ausreichend alkoholfreie Getränke und was zum Essen. Lärmempfindliche profitieren von Ohrstöpseln. Menschenmengen sind auch ohne Lärm anstrengend, falls ihr also einen Großveranstaltungs-Übersteh-Kit habt, packt den mit ein.

Falls es noch Fragen gibt, pingt uns gern auf den von uns bespielten Kanälen an.

Am Sonntag ist ein Infostand angemeldet — wir freuen uns auf euch.

Die Ace Community Umfrage 2024 ist eröffnet

Erhebungen zu Personen auf dem Aspec sind wichtig, aber selten. Umso dankbarer sind wir für die Arbeit des Teams der Ace Community Umfrage 2024, die zur Teilnahme an der nächsten Runde aufrufen.

„Es ist wieder so weit – wir sind auf der Suche nach Menschen, die an der Ace Community Umfrage teilnehmen möchten! Die Ace Community Umfrage wird vom Ace Community Survey Team – einer community-basierten Ehrenamtlichen-Organisation – in Zusammenarbeit mit der Northwestern University (Evanston, Illinois, USA) durchgeführt. Sie sammelt wichtige Informationen zur Demografie und den Erfahrungen von Menschen in der ace Community (“ace” als zusammenfassender Begriff für Menschen, die sich als asexuell, demisexuell, grau-asexuell oder einer anderen Orientierung des asexuellen Spektrums identifizieren). Die Teilnehmenden haben außerdem die Möglichkeit zu entscheiden, ob ihre Daten auch externen Forschenden zur Verfügung gestellt werden sollen oder ausschließlich unserem Team.

Die Umfrage ist offen für alle Personen, egal ob ace, nicht ace oder noch unsicher. Die einzige Voraussetzung ist ein Mindestalter von 15 Jahren. Da wir möglichst viele Menschen erreichen wollen, um die Diversität der Community möglichst gut einzufangen, freuen wir uns sehr, wenn der Link zu dieser Umfrage mit weiteren, potentiell interessierten Personen oder ace Communitys
geteilt wird.

Hier geht es direkt zur Ace Community Umfrage 2024.

Alle Ergebnisse der Umfrage werden unter https://acecommunitysurvey.org veröffentlicht und können dort eingesehen werden. Automatische E-Mail Updates über neue Ergebnisse oder Ankündigungen (meist englisch) können hier abonniert werden.“

Presseschau #2

Vorab ein Nachtrag zur letzten Presseschau: In ihr hatte ich einen Text auf web.de weitestgehend unkommentiert gelassen. Daraufhin wies eine Person auf verschiedene Probleme nicht nur mit diesem Text, sondern der Berichterstattung über das Aspec generell hin. Vielen Dank dafür! Ich freue mich, lernen zu dürfen, und generell gilt: Diese Texte geben meine Erfahrungen und mein Wissen wieder. Das Feedback anderer Personen aus den asexuellen und aromatischen Communities ist sehr willkommen!

Hier einige der Punkte, die fehlten:

  • Auch wenn eine Person ace UND aro ist, stellen Artikel oft alles unter das Framing der Asexualität.
  • Bemerkungen wie „asexuelle Personen sind nicht traumatisiert / krank / bindungsgestört / autistisch / behindert“ marginalisieren Aces, die, wie Menschen anderer Orientierungen auch, genau all das sein können.

  • Asexualität wird oft noch pathologisiert. Besser als die Person, die mich auf meine Oberflächlichkeit hinwies, kann ich’s auch nicht sagen: „Im Text wird ein Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie befragt. Wenn der sagt, dass Asexualität nicht behandlungsbedürftig ist, ist das an sich gut. Aber: Asexualität wird nach wie vor im ICD-11 pathologisiert. Die Psychiatrie hat uns immer pathologisiert und hört erst allmählich damit auf, weil seit über 20 Jahren Aktivist*innen diese Strukturen bearbeiten. Aces haben ca. 15 Jahre lang selbst Konzepte entwickelt und community research betrieben, jetzt reißen Akademiker*innen die Themen an sich und und schlagen Profit (Zitationen, Ruhm, Jobchancen) daraus, ohne uns zu referenzieren. Ich finde es mit wenigen Ausnahmen inakzeptabel, Leute dieses Systems nach der Validität von Asexualität zu befragen. Das suggeriert zudem, dass Asexualität eine Störung sein und erst die „Fachmeinung“ das final bestätigen oder verneinen könnte. Das Gegenteil ist der Fall: Wir wussten von Anfang an, dass unsere sexuelle Orientierung valide ist und haben Jahrzehnte des Aktivismus gebraucht, um solche Leute zu überzeugen.“

Nochmals tausend Dank! Weiter geht’s mit ein paar neuen Fundstücken:

(mehr …)

Save the Date und Suche nach Beiträgen: AktivistA-Konferenz 2024

Ein wenig stolz sind wir schon, die zehnte Ausgabe der AktivistA-Konferenz für das asexuelle Spektrum ankündigen zu dürfen. Nicht mal die Verfasserin dieser Zeilen hätte gedacht, dass das Konzept so lange vorhält.

Dieses Jahr treffen wir uns am 14. und 15. September für Vorträge und viel Zeit zum Reden in der Weissenburg in Stuttgart. Wie gehabt wollen wir den Samstag mit Vorträgen und Workshops füllen und am Sonntag noch mal gemütlich plauschen.

Anmelden könnt ihr euch über die bewährte Unterseite und das Kontaktformular. Auf der Unterseite findet ihr auch Details zu Kosten und Anreise. Außerdem posten wir dort Aktualisierungen zum Programm, sobald wir sie vorliegen haben.

Keine Konferenz ohne Inhalt

Wie immer suchen wir Menschen, die Vorträge halten. Wir zahlen für maximal zwei Menschen pro Programmpunkt Anreise, Mittagessen und ein Honorar. Thematisch suchen wir alles, was mit den ace und aro Spektren zu tun hat, nehmen aber auch gern einen Blick über den Tellerrand in politische Arbeit, trans Themen, Intersektionen oder …? Die Vorträge/Workshops sollten maximal 45 Minuten dauern, danach sind 15 Minuten für Diskussion und Fragen geplant.

Wenn ihr Interesse habt, euch, euer Projekt, euer Thema etc. auf der Konferenz vorzustellen, könnt ihr das Anmeldeformular auf der Konferenz-Unterseite benutzen oder Carmilla beim Aspec*German-Discord anpingen.

Mit Ace- und Aro-Flagge verzierter Flügel bei der AktivistA 2023

 

 

24. Dezember: Halber Mann

CN: Body Horror (?), Acefeindlichkeit, Erwähnung von Alkohol, Essen, Wortwitze

Halber Mann

Chris

„Wie, du bist demi? Heißt das nicht halb? Haha! Bist du dann nur ein halber Mann?“, meinte Hannes, mein Kollege, als wir gerade vor der Kaffeemaschine standen.

Und – zack – da war ich ein halber Mann. Verlegen kratzte ich mich am Nacken. „Haha, nein, das heißt …“

„Oh, hoppla war ich das jetzt?“, unterbrach Hannes mich. „Ach, ist ja auch egal, ich mach mal weiter. Muss ja, ne? Mach’s gut!“, und schon verschwand er wieder in seinem Büro.

Ich sah an mir herab. Ich schien wirklich nur halb zu existieren. Irgendwo in der Mitte, von oben nach unten längs einmal durch. Dahinter nix. Zwischendrin waberte irgendwas Schwarz-Grau-Weiß-Lila-Schimmerndes. Komisch irgendwie.

„Na ja, was soll’s“, dachte ich mir, „so muss ich jetzt wenigstens nicht groß mit Erklärungen ausholen …“

Ich war froh, dass ich heute nur halbtags arbeiten musste, und ich jetzt Feierabend machen konnte. Also zog ich nochmal die Schnürsenkel meiner Halbschuhe straff und machte mich auf den Heimweg.

Blöderweise fuhren keine Öffis nach Hause. Da war mal wieder die halbe Straße aufgerissen wegen irgendwelcher Bauarbeiten. Also musste ich zu meiner Wohnung in einer Doppelhaushälfte laufen. Die lag am Stadtrand, so halb in der Natur.

 

Und so lief ich nun die Straße lang.

Leute, die mich sahen, sagten sich: „Da geht er hin, der halbe Mann.“ Kinder, die mit dem Finger auf mich zeigten, so halbe Portionen, wurden von ihren Eltern weiter geschoben, die ihnen in halber Lautstärke, grade so, dass ich es hören konnte, zuflüsterten: „Schau da nicht hin, das ist ein halber Mann!“

Mein Weg führte mich am Rathaus vorbei.

Auf dem halbrunden Platz waren die Fahnen auf Halbmast. In einem Straßencafé wurde ein Fußballspiel übertragen. Es war wohl grade Halbzeit.

Bauarbeiter, die gerade mit einem Presslufthammer den Straßenbelag entfernt hatten gönnten sich zur Pause ihre halbe Bier …

In einem Hauseingang auf der anderen Straßenseite winkte mir ein Junge zu und rief etwas, das allerdings im Bass eines vorbeifahrenden Autos unterging, das die Fenster halb heruntergekurbelt hatte. „Was’n Vollpfosten. Die halbe Lautstärke hätte es auch getan“, dachte ich mir und sah noch, wie der winkende Junge von seiner Mutter in den Halbschatten des Treppenhauses gezogen wurde. Ich kann ja mit Kindern nix anfangen, aber anscheinend übe ich auf diese gerne mal eine Faszination aus. Keine Ahnung, warum.

 

Der kleine Timmy war gerade mit seiner Mama vom Einkaufen zurückgekommen und als diese noch im Eingangsbereich des Hochparterres mit dem Schlüsselbund kämpfte, blickt er noch einmal zurück zur Straße. Dort sah er etwas sehr Interessantes. Eine Person, nein … irgendwie … bunt. Wabernd … waren das Schuppen? „Mama, guck mal! Der Mann da ist total bunt!“, rief er durch den nun geöffneten Türrahmen hinein und begann der Person zu winken. Doch die Mutter warf nur einen kurzen Blick nach draußen und auf den halben Mann, der da unter dem grauen, halb bewölkten Himmel dahintrottete und bewegte ihr Kind halb durch Ziehen, halb durch Drücken in die Wohnung. Während sich die Mutter ans Verräumen der Einkäufe machte, kletterte Timmy auf die Küchenarbeitsfläche und blickt durch das Küchenfenster nochmal auf die Straße… er sah gerade noch, wie etwas Lila… Beschupptes? … hinter der nächsten Straßenecke verschwand.

 

Schließlich kam ich zu Hause an. Das Treppenhaus mal wieder halb zugestellt quetschte ich mich in den ersten Stock. Wohne natürlich auf halber Höhe.

Die Klamotten über die Lehne geworfen ließ ich mich mit einem lauten Seufzer auf eine Sofahälfte fallen. Kaum, dass ich da lümmelte und etwas zur Ruhe kam, regte sich etwas in dem bunten Wabern meiner noch sichtbaren Körperhälfte …

„Mmmmöööööääääähhhheeendlich zu Hause!“, sagte Edgar, der sich wie zähflüssiger Sirup aus der Schimmerschicht formte und langsam seine volle Gestalt annahm. „Ich kann nicht fassen, was der Hannes da schon wieder abgelassen hat.“ Er schüttelte irritiert seine Rückenschuppen. An dieser Stelle ist es vielleicht angebracht, etwas von Edgar zu erzählen. Edgar ist mein Drache. Ich weiß nicht, wie wir uns kennenlernten. Ich glaube, er war eigentlich schon immer da. Er ist keiner dieser großen, roten, feuerspeienden Drachen, wie man sie sich so vorstellt. Kein Feueratem, kein Giftatem, auch keine Blitze oder Eis waren sein Ding. Keine grünen, gelben oder blauen Schuppen. Nein, Edgar war ein Lila Drache, seine Spezialität war ein Knoblauchatem. Damit konnte er alles, was davon in Mitleidenschaft gezogen wurde, in perfektes, krosses Knoblauchbrot verwandeln. Eine wahre Gabe! Nebenher war Edgar auch ein begnadeter Bäcker, nur die Heuschnupfenzeit war manchmal etwas problematisch, da freuten sich dann die Nachbarn über spontane Brotkorb-Geschenke.

„Weißt du was?“, fragte er mit entschlossenem Blick. „Der Nächste, der dir so dumm kommt, der wird von mir gebrotet! Aber so was von! Aber komm, ich lass dir jetzt erst mal ein Vollbad ein. Dann entspannst du ein bisschen, bevor nachher die Gäste kommen.“

„Au ja, gerne!“ erwiderte ich. Edgar weiß einfach, was ich brauche. Da macht er keine halben Sachen. Ich wendete mich derweil der Zeitung zu. Vielleicht sollte ich doch mal einen Vollzeit-Job annehmen? Dann wäre ich auch weg von dem Kollegen … Ich überflog die Stellengesuche, während ich hörte, wie im anderen Zimmer plätschernd das Badewasser einlief und Edgar was von „Mmh, noch eben lüften …“ in sich hinein murmelte. Ein Full-Stack-Entwickler wurde gesucht, das wäre doch was. Ich las die Stellenbeschreibung: „Bewerber darf nicht älter als 18 sein, muss mindestens 20 Jahre Berufserfahrung mit bringen …“, immer wieder derselbe halbgare Blödsinn. Mit halbem Auge fiel mein Blick auf die Heuschnupfen-Mittelchen-Werbung … Ach, war es mal wieder so weit?

Ich sah nicht, wie die Stichflamme aus der Badtür schoss, ich hörte nur ein lautes Niesen, das kurz alles übertönte, bis an meine Ohren wieder das Plätschern des Wassers drang. Verlegen erreichte mich Edgars Stimme „Duuu? Weißt du noch, dein Lieblingsshampoo? Das mit der schwarzen Flasche? Ähhm … sorry. Ich öööh … leg’s mal in den Ofen zum Warmhalten für später, okay?“ Er lief sichtlich berührt mit vollen Händen an mir vorbei, während ich mich ins Bad aufmachte. Ich öffnete einen Wandschrank und nahm von der dort ringelassenen Palette die nächste der gelagerten 250 Shampooflaschen, drehte den Wasserhahn ab und stieg wohlig seufzend in die Wanne, während aus der Küche ein „Uuuuh, Vollkorn!“ ertönte.

 

Es war Vollmond, und da passieren ja immer die seltsamsten Dinge. Genau deswegen hatte ich auf den Abend hin zur vollen Stunde meine Freunde eingeladen. Nein, nicht zum Volllaufenlassen! Ein Filmabend stand auf dem Plan. So trashige Klassiker wie „Voll normaaal“ oder „Werner – Volles Rooäää!!!“ Auch waren ein paar der Gäste Wrestlingfans und äußerten den Wunsch, ob man das aktuelle Match verfolgen könnte. Ich bin jetzt nicht so der Fan von Vollkontaktsport, aber da es anscheinend ein Halbfinale war, konnte ich dann doch voll mitfiebern.

Während Edgar für das leibliche Wohl sorgte (an Knoblauchbrot mangelte es nicht und er hatte dann zur Vorsicht doch noch Heuschnupfenpillen genommen), unterhielt ich mich angeregt und auf die Couch gekuschelt mit einigen Leuten. „Ach, lass dich nicht nieder machen. Ist doch nur halb so schlimm. Der Hannes, den brauchst du nicht für voll zu nehmen“, sagten sie mir. Und ich musste ihnen recht geben.

„Ja, ich glaube der ist sowieso auch voll ausgelastet mit lauter anderem Kram. Der hat nicht mal halb soviel Kapazität für Self-Care wie ich. Eigentlich tut er mir schon fast leid“, überlegte ich laut.

„Und du bist viel zu nett. Beim nächsten Mal brote ich ihm trotzdem eins über!“, warf Edgar ein, der eben Kaffee auffuhr. Wer mochte, konnte diesen auch mit Vollmilch genießen.

Kurz darauf folgte Kuchen. Voll-Nuss! Voll gut!

Schließlich wurde beschlossen, noch etwas Musik aufzulegen. Kurz wurde überlegt, ob man Vol(l)ksmusik hören möchte, aber das fanden wir dann doch zu albern. Es wurde Vol(l)beat.

 

Aber auch ein vollkommener Abend muss irgendwann sein Ende finden. Und so standen wir zum Abschied noch alle im Treppenhaus herum. „Ach, Freunde, was wäre ich bloß ohne euch! Schön, dass ihr für mich da seid. Ohne euch wär’ alles nicht mal halb so schön.“

Und so sahen sich meine Freunde an und mit einem „Aber du weißt doch, irgendwie sind wir immer bei dir“, sprangen alle gleichzeitig hoch zu einem großen Gruppen-High-Five.

Was nun passierte, kann man glaub ich nur noch mit Begriffen aus der Internet- und Nerdkultur beschreiben … Man kann sich das vorstellen wie eine Kombination aus einer Magical-Girl-Transformation-Szene und dem hin und her Verschieben einzelner Teile eines Transformers, wenn er seine Gestalt ändert. Es waren sehr viel helles Licht und Bänder? und Zahnräder? involviert. Kurz war mir so, als wäre auch mal eine Sailor-Uniform aufgeblitzt. Während ich gebannt beobachtete, was dort passierte, gesellte sich Edgar an meine Seite und drückte mir mit einem „mmh, hier halt mal …“ einen Teller Knoblauchbrot in die Hand. Ich ließ das geschehen und starrte nur mit offenem Mund, wie sich vor mir … meine zweite Hälfte gebildet hatte.

„Ahh, ich glaube, hier kann ich auch noch was beitragen“, meinte Edgar, während er die beiden seltsam schimmernden Flächen berührte, die meine Hälften voneinander abtrennten. Langsam wurden wir aufeinander zu gezogen …

 

Wilhelmine Stiegensteiger, ihres Zeichens erste Vorsitzende des örtlichen Vereins der Häkelnden und Wäscheklammersammelnden e.V. wollte sich grade der Untersuchung eines neuen Wäscheklammermodells mit doppelt gespleißtem Holzrahmen und äußerst interessanter, vierfach gespulter Federkonstruktion widmen, als sie gewahr wurde, dass durch ihren Türspion ein äußerst helles Licht drang. Neugierig legte sie ihr Vergrößerungsglas und das Untersuchungsobjekt zur Seite, erhob sie sich aus ihrem Ohrensessel, strich die extra gehäkelten Deckchen für die Armlehnen und die Sitzpolster glatt und ging zur Tür. Als sie die Türklinke in die Hand nahm, war das helle Licht bereits verschwunden. Im Treppenhaus fand sie ihren Nachbarn vor, der sich mit ungläubigem Gesichtsausdruck mit einer Hand abtastete. Den Mann, der schon seit geraumer Zeit die Wohnung gegenüber bewohnte, fand sie zwar manchmal ein wenig eigenbrötlerisch, aber kannte ihn ansonsten als vollkommen netten und zuvorkommenden Menschen.

„Oh, guten Abend! Haben sie was verloren?“

Erst jetzt bemerkend, dass noch jemand ins Treppenhaus getreten war, sah ihr Nachbar zu ihr auf. „Nein … ich dachte, mir fehlt was, aber … ich hab doch alles zusammen. Alles gut.“ Sein Blick fiel auf den Teller in seiner Hand und seine Stirn kräuselte sich kurz nachdenklich. „Möchten Sie vielleicht etwas Knoblauchbrot? Ich hab etwas zu viel gemacht … und hier …“, er streckte ihr den Teller hin, „das ist sogar Vollkorn!“

 

Das Wochenende vorbei, trat ich am Montag vollkommen erholt wieder den Dienst an. Hannes wartete bereits am Kaffeevollautomaten auf mich. „Du, sorry nochmal wegen der Demi-Sache. Aber weißt du was? Ich hab gelesen, das gehört zur Asexualität … und weißt du, was man von der Asexualität so sagt?“

Ich sah aus dem Augenwinkel einen lila Schatten und riss die Augen weit auf. Oh nein. „Nein! Sag es nicht!“ Mir wurde schwummrig,

„Man sagt, das ist …“ – Schuppen stellten sich hinter Hannes auf, Die Welt wurde transparent. – „… die unsichtbare Orientierung! Haha, da guckst du was? Ähh … wo isser hin? Hallo? Eben stand er doch noch da. Und … mmh … was riecht hier eigentlich so intensiv nach Knoblauch?“

 

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