Kategorie: Asexualität

Zwei Jahre queerpolitischer Aufbruch im Koalitionsvertrag – Vorhaben droht zu scheitern

Vor knapp zwei Jahren versprachen SPD, Grüne und FDP mit ihrem Koalitionsvertrag LSBTQIA+ einen queerpolitischen Aufbruch, der bis heute ausblieb. Zum Jahrestag der Verabschiedung des „Aktionsplans Queer Leben“ am 18.11.2023 hat AktivistA gemeinsam mit 35 anderen queeren Organisation einen offenen Brief des LSVD an Bundeskanzler Scholz und alle Kabinettsmitglieder veröffentlicht.

„Sehr geehrter Herr Bundeskanzler, sehr geehrte Kabinettsmitglieder,

nach der Einführung der Lebenspartnerschaft, der anschließenden Öffnung der Ehe und der Einführung eines dritten positiven Geschlechtseintrags hatten wir große Hoffnung, queere Lebensweisen und Identitäten würden nun in all ihrer Vielfalt endgültig Teil gesellschaftlicher Normalität. Derzeit erleben wir jedoch einen deutlichen gesellschaftlichen Backlash: Die
Akzeptanzwerte zu sexueller und geschlechtlicher Vielfalt sinken erstmals seit Jahrzehnten, „soziale“ Medien werden gezielt als Resonanzräume für menschenverachtende Queerfeindlichkeit instrumentalisiert, die homo- und transfeindliche Gewalt auf der Straße nimmt merklich und messbar zu. Hinzu kommen die letzten Wahlerfolge der AfD, die sich wiederholt mit queerfeindlichen und rechtsextremen Parolen positioniert. Diese Entwicklungen machen uns Angst.

(mehr …)

Asexualität im Kino: „Slow“ von Marija Kavtaradze

Der Film „Slow“ von Marija Kavtaradze zeigt eine Beziehung zwischen einer ace und einer allo Person. Nachdem Markus vom Hamburger Stammtisch von Vorführungen bei den Nordischen Filmtagen in Lübeck erfuhr, fragte er dort nach, ob er unsere Flyer auslegen dürfe. Nicht nur das wurde ihm erlaubt, er erhielt auch Freikarten und eine Einladung, nach den Vorstellungen an öffentlichen Gesprächen teilzunehmen. Eine dieser Gelegenheiten gab der Stammtisch an AktivistA weiter. Vielen Dank für den Einsatz und dafür, uns einzubeziehen! Und vielen Dank auch an die Nordischen Filmtage: Es ist erfreulich, wenn ein Film über eine marginalisierte Gruppe gezeigt und ihr (wenn auch durch die persönliche Initiative einer Einzelperson) Raum gegeben wird.

Für AktivistA fuhr ich also nach Lübeck, um den Film zu sehen und danach an was eigentlich teilzunehmen? Einer Podiumsdiskussion, einem Q&A? Als ich das in Erfahrung bringen wollte, erfuhr ich, dass es sich um ein Gespräch zwischen Hauptdarsteller*innen und einer Moderation handeln sollte. Thema würde erst einmal explizit „Filmisches“ sein, nicht Asexualität, über sie könne am Ende und bei Bedarf gesprochen werden, immerhin sei es ein „normales“ Filmfestival. Es wäre leicht, zu schreiben „Was auch immer das heißen mag.“ Leider stellt sich mir diese Frage nicht; ein „normales“, nicht-queeres Filmfestival ist für Genrenischen da, die im Mainstream untergehen. Zum Beispiel eine, in der Geschichten über, nicht für marginalisierte Gruppen erzählt werden.

Allornormative Ratlosigkeit

Diese heteronormative Haltung passt meiner Meinung nach hervorragend zum Film. „Slow“ zeigt die Probleme einer heteroromantischen Beziehung mit dysfunktionaler Kommunikation. Ob die Asexualität der männlichen Figur dafür der einzige Grund ist, bleibt offen. Wie selbstverständlich die allo Partnerin Elena (Greta Grinevičiūtė) die ace Person Dovydas (Kęstutis Cicėnas) mit ihren Erwartungen konfrontiert, widerspricht dem zumindest nicht. Dem Desinteresse des asexuellen Mannes an Praktiken mit Fokus auf Genitalien begegnen beide mit Ratlosigkeit, offene Gespräche darüber bleiben aus. Hetero- und allonormative Erwartungen an eine romantische Beziehung werden höchstens im Alkoholrausch kurz übermütig hinterfragt, den Rest der Zeit bleiben sie selbstverständlich. Nicht nur in dieser Hinsicht ist „Slow“ ein durchweg straighter Film. Obwohl Dovydas ace ist, fehlt ihm der Kontakt zur und das Wissen über die queere Community und deren Erfahrungen mit Consent, er wirkt einfach wie ein „schlechter“ Heterosexueller. Wenn mensch bedenkt, wie unsichtbar und damit unwissend Aspecs oft bleiben, ist das realistisch, hat aber wenig mit der Identität und viel mit struktureller Ignoranz zu tun.
Dass der Film nicht aufklärt, sondern einfach eine Geschichte erzählt, ist eine ambivalente Entscheidung. Positiv daran ist, dass er Asexualität als schlichtweg existent zeigt und das anhand einer männlichen Hauptfigur geschieht. Doch die Gegenüberstellung mit der freien, „normalen“ Sexualität Elenas brandmarkt ihn auf eine Art, die Annahmen und Vorurteile straighter Allos über Asexualität bestätigen könnte. Mich hat der Film weder enttäuscht noch erfreut. Um Allos Asexualität nahezubringen, würde ich ihn nur „unter Aufsicht“ durch eine ace Person empfehlen.

Stimmen aus der Community

Damit ihr nicht mit meiner Meinung allein gelassen werdet, folgen hier noch ein paar Stimmen anderer Aspecs des Hamburger Stammtischs.

(mehr …)

Presseschau #1

Auf der Suche nach angemessener Repräsentation betrachtet Lennart in unregelmäßigen Abständen in unserer kleinen Presseschau Artikel zum Aspec näher.

Missy-magazine.de: Bin ich nicht begehrenswert? Unsere Kolumnistin serviert dir ein Menü des Datings und reflektiert Begehren und Sexualität aus einer queerfeministischen Perspektive.

Eine gelungene Kolumne über die Fallstricke der Allosexualität. Hà Phương Nguyễn betrachtet Asexualität nicht als etwas Erklärungsbedürftiges, sondern Selbstverständliches. Diese Akzeptanz ermöglicht Fragen, die auch Allos helfen, mehr über sich und ihre Beziehungen zu erfahren. Schön, wenn ein Text über das (immer noch nötige) Darlegen der Grundlagen hinausgeht!

Brigitte.de: Was zeichnet eine asexuelle Person aus? Was ist Asexualität? Wie erkennt man, dass man asexuell ist? Und können asexuelle Menschen Liebesbeziehungen führen? Hier gibt es alle Antworten.

Alle Antworten? Spannend! „Das Spektrum der Asexualität umfasst unterschiedliche Erfahrungen mit Anziehung, Erregung und Beziehungswünschen der Menschen.“, jein. Erfreulich ist der Hinweis auf ein Spektrum und die unterschiedlichen Erfahrungen. Doch für die Definition der Asexualität spielen Erregung, also vermutlich Libido, und Beziehungswünsche keine Rolle. Wäre es so, könnte mit einer bestimmten Art von Beziehung eine Entscheidung gegen die eigene sexuelle Orientierung getroffen werden. Wahrscheinlich ist das aber nur missverständlich ausgedrückt, der Artikel selbst ist deutlich um Differenzierung bemüht. Leider falsch liegt er jedoch, wenn er Aromantik als Teil der asexuellen Identität versteht. Aromantik und Asexualität bilden gemeinsam das Aspec, das aromantische UND asexuelle Spektrum, doch sie bedingen einander nicht. Erfreulich wiederum ist, dass auch andere Anziehungen als die sexuelle und romantische erwähnt werden.

Web.de: Asexualität: Wenn man keinen Sex braucht um erfüllt zu leben

In diesem soliden, einführenden Text mit asexuellen Stimmen kommt auch unsere Irina zu Wort. Vielen Dank, Irina!

Refinery29.com: Asexualität ist so viel mehr als „keine Lust auf Sex“

Dieses Sammelsurium von Zitaten aus lesenswerten Büchern zum Thema legt den Schwerpunkt auf „asexuelle Freude“. Leider bleiben die meisten Beispiele wie Kuchenbacken und „mehr Zeit haben“ oberflächlich. Denn die Freude, die es mit sich bringt, herauszufinden, ein vollständiger Mensch zu sein, obwohl mensch nicht den gesellschaftlichen Erwartungen entspricht, geht weit über den Spaß an Hobbies hinaus. Das Ziel einer Emanzipation vom allonormativen Druck ist nicht das Finden von Ersatztätigkeiten für Sex, sondern ein selbstbewusstes Leben jenseits sexueller und romantischer Normen. Worum es bei Asexualität auch nicht geht: sexuelle Lust, die hier wieder einmal mit sexueller Anziehung vermischt wird.

Bz-berlin.de: Frau Försters Fragestunde: „Ich habe keine Lust auf Sex. Was soll ich dagegen tun?“

Eine Sexualtherapeutin beantwortet die Frage einer Leserin nach Asexualität mit: „Asexuell in der Definition ist, wer kein oder nur ein geringes sexuelles Verlangen verspürt. Dies ist von Beginn an so. Deswegen ist es notwendig abzugrenzen von vorübergehender sexueller Unlust, die viele Menschen im Laufe ihres Lebens zeitweise erleben.“. Damit bringt ein Artikel wieder einmal fehlendes „Verlangen“, also Libido, zu Unrecht mit Asexualität in Verbindung. Aber allein der Begriff bzw. das Verständnis für das Konzept der sexuellen Anziehung ermöglicht eine korrekte Definition von Asexualität, eine niedrige Libido können Personen jeder Orientierung haben. Schwammig bleibt der Text auch, wenn es heißt, dass asexuelle Person generell kein Interesse an Sex hätten, ganz so, als wäre eine Auseinandersetzung auf künstlerische, historische oder medizinische Weise, ein Kinderwunsch und selbst Sex ohne Anziehung unmöglich. Bedenklich ist auch die indirekte Entmenschlichung von Aros im folgenden Satz: „Während asexuelle Menschen durchaus Partnerschaften führen, Familien gründen und zwischenmenschliche Bindungen suchen und eingehen, sind aromatische Menschen an keinerlei romantischer Bindung interessiert.“ Familien und zwischenmenschliche Bindungen sind nicht immer romantischer Art. Zwar weist der Text später noch explizit auf Freundschaften hin, unterschlägt aber, dass diese eine ähnliche Tiefe wie romantische Beziehungen haben können. Stattdessen behauptet er, aromantische Personen „wollen also keinen Partner an Ihrer Seite wissen“, ganz so, als würden sich Aros aktiv gegen jede Art von Intimität und Zusammenleben entscheiden.

AktivistA 2023: Besucherrekord in der Weißenburg

Alle Jahre wieder… findet im September unsere Konferenz statt. Diesmal mit einem Schreck zu Anfang: Die Hauptverantwortliche war kurzfristig erkrankt. Umdisponieren war angesagt. Dennoch lief alles ohne größere Katastrophen ab.

Mit Ace- und Aro-Flagge verzierter Flügel

In diesem Jahr standen am Samstag vier Vorträge auf dem Programm, die jeweils einen anderen Aspekt näher beleuchteten. Den Anfang machte unser Mitglied Jens mit dem Thema „Graue Asexualitäten“. Unter anderem wies er darauf hin, dass das entsprechende Label (auf Englisch meist „Gray/Grey A“) innerhalb der Community geprägt wurde und nicht aus der Wissenschaft stammt. Jens legte außerdem dar, wozu sogenannte Mikrolabel gut sein können, und sprach sehr offen über seine eigenen Erfahrungen. Die Erkenntnis, sich auf dem asexuellen Spektrum zu befinden, kam erst nach Jahrzehnten der Aktivität in der queeren Szene. Wieder einmal wurde deutlich, wie wichtig die Sichtbarmachung dieses Spektrums ist.

Danach hätte eigentlich schon das bestellte Mittagessen kommen sollen… es ließ auf sich warten. Spontan zogen Finn und Flemm vom Kollektiv AktivAro ihren Beitrag vor und erzählten uns mehr über ihre Mission „für mehr Aromantik auf der Welt“. Die Online-Plattform soll noch wachsen; Menschen, die sie mitgestalten möchten, sind sehr willkommen. Eine interessante Erkenntnis: Bisherige Befragungen deuten darauf hin, dass zum Beispiel eine demisexuelle mit einer demiromantischen Orientierung korreliert. Die Verortung von Menschen auf dem asexuellen und aromantischen Spektrum scheint also zueinander zu passen.

Teilnehmende lauschen gespannt dem Vortrag über „Graue Asexualitäten“

Den nunmehr leiblich gesättigten Teilnehmenden wurden im zweiten Teil als geistige Nahrung zwei Vorträge serviert, die thematisch recht gut zueinander passten. Zunächst betrat Finn noch einmal die Bühne, diesmal gemeinsam mit Noir als Mitglieder des Teams hinter dem Podcast InSpektren. „Wir reden über Asexualität, Aromantik, Aplatonik und vieles mehr“ lautet das Motto. Zu diesem „vielen mehr“ gehört auch die ästhetische Anziehung, die nicht alle Menschen empfinden. Ist sie nicht vorhanden, kann man von Aästhetik sprechen. Merke: Ästhetik ist nicht nur visuell, sondern kann sich auf alle sinnlich wahrnehmbaren Ebenen beziehen! Die lebhafte Diskussion im Anschluss an den Vortrag warf unter anderem die Frage auf, inwiefern das eigene ästhetische Empfinden von gesellschaftlichen Schönheitsnormen beeinflusst ist.

Den Titel „»ace-thetics« – Formen visueller (Re-)Präsentation von Asexualität“ trug der Vortrag von Annika Baumgart, einer Hälfte des Duos, hinter dem Sachbuch (un)sichtbar gemacht. Der Vortrag selbst widmete sich einer Frage, die wir vor einigen Jahren auf diesem Blog auch schon einmal gestellt haben: Wie stellt man das asexuelle Spektrum bildlich dar? So einfach wie „Zwei Männer halten Händchen: Das ist ein schwules Paar“ ist es bei uns einfach nicht. Bisher scheint es nur zwei Lösungen zu geben: einerseits Bilder, die man auch als Darstellung von Beziehungsproblemen deuten kann, andererseits in der Community bekannte Symbole wie die Farben der Flagge. Diese sind wiederum für die Allgemeinheit nicht verständlich.

Bis zum Kehraus um 22 Uhr wurde noch munter geschwatzt, teilweise aufgrund des guten Wetters auch im Hof. Am Sonntag fanden viele von uns im oberen Saal noch einmal zusammen. Diverse die Community betreffende Themen wurden tiefer erörtert, aber einige wollten auch einfach nur Karten spielen…

In diesem Jahr gab es für die Teilnahme an der Konferenz erstmals eine Warteliste. Nicht ohne Grund: Ein Blick in den unteren Saal am Samstag zeigte, dass die Weißenburg bei noch mehr Menschen aus den Nähten platzen würde. Brauchen wir eine größere Location? Andererseits ist die traditionsreiche Einrichtung in der gleichnamigen Straße uns in all den Jahren ans Herz gewachsen…

Grüße an alle Menschen aus Wilhelmshaven, Zürich, Magdeburg und dazwischen, an die Fraktion „mit extra Ananas“, die Fans von J. S. Bach und die Tanne, die Fell statt Nadeln trägt.

AktivistA-Konferenz 2023: Teaser Trailer

Pünktlich zum Pride Month haben wir für euch eine kleine Vorschau für das Programm unserer Konferenz für das asexuelle Spektrum. Die Reihenfolge ist noch nicht ganz klar, da sie auch von Zugfahrzeiten der Beteiligten abhängt.

Die hier zu sehende Treppe am Zentrum Weissenburg ist diesmal tatsächlich relevant für den Inhalt.

Community-intern wird Jens ein Update zu Grau-Asexualitäten geben und ein wenig über eigene Erfahrungen berichten.

Außerdem angesagt hat sich Flemm, um AktivAro und deren Aktivitäten vorzustellen.

Danach werden sich Noir und Finn von InSpektren eine Anziehungsform vornehmen: „Von Ästhetik bis Aästhetik – Ein kaum beachteter Teil des A*spec“.

Und wo wir bei vermeintlichen oder echten Äußerlichkeiten sind: Anni Baumgart von ace_arovolution beschäftigt sich wissenschaftlich mit dem Bild von Asexualität in den Medien und wird eine Masterarbeit diesezüglich vorstellen.

Ansonsten noch eine Neuerung: Wir haben für den Tag einen Konferenzraum im Obergeschoss der Weissenburg gemietet. Er ist über eine schmale Treppe zu erreichen und bietet Platz für etwa 15 Personen. Ihr dürft gern Interesse an einer Besprechung anmelden, für deren Zeit ich dann den Raum reserviere. Außerhalb von Besprechungen steht er als Rückzugsort für Menschen zu Verfügung, die grade nicht so gut Lautstärke oder Leute können.

Bitte benutzt das Formular auf der Konferenz-Unterseite, um euch anzumelden.

CSD Karlsruhe 2023 oder: Ist leider schon weg.

Ein Teil der Truppe, die beim Infostand und der Demogruppe geholfen haben.

Obwohl oder weil der CSD Karlsruhe diesmal mitten in den hiesigen Pfingstferien lag, hatten wir und der Rest der Veranstaltung überwältigend viel Besuch. Hinzu kam passendes Wetter: Zumindest am Infostand war es nicht zu heiß. Es ging jedoch leichter Wind, der uns regelmäßig Papier davonwehte, obwohl wir ja schon ein Dutzend Beschwersteine benutzten. Da die Standchefin nicht so gut zu Fuß war, hiermit ein Dankeschön an alle, die den flüchtigen Druckwerken hinterherspurteten.

Der Fußgruppe mangelte es dieses Mal an Stangen für die Fahnen, sodass sie leider im wie so häufig etwas unorganisierten Pulk unterging. Die knapp 1000 Flyer wurden von den Teilnehmenden aber fleißig unter die Leute gebracht.

Am Stand wurden wir zu manchen Zeitpunkten fast überrannt. Daher fuhren wir mit etwa einem Zehntel des Merchandises heim, den wir eingepackt hatten. Viel zu oft mussten wir eingestehen: „Ist leider schon weg.“ Nebenbei führten wir die üblichen Aufklärungsgespräche über Asexualität und Aromantik. Glücklicherweise blieben die meisten Themen-Neulinge sehr respektvoll. Einige fuhren total auf unser Glossar-Glücksrad ab. Zahlreiche Menschen freuten sich über unseren Ace- und Aro-Merch. Einige davon wurden sogleich für den Aspec*German-Discord und die passenden Stammtische rekrutiert.

Wenn ihr den Livestream des CSDs vorspult, findet ihr auf der Demo die von der Polizei geschätzten 6000 Menschen plus etwa doppelt so viel Publikum. Eine Ace-Flagge weht ab 2:50:30 durchs Bild, die Fußgruppe ist irgendwie verschluckt … (ich habe sie zumindest nicht gefunden). Auch die Podiumsdiskussionen im Stream sind sehr zu empfehlen. Vor allem die ab 6:39:00, denn da sind zwei Menschen von AktivAro auf der Bühne. Sie besprechen vor allem Basis-Infos – passend zum gemischten Publikum.

Zum IDAHOBITA* 2023

Zunächst einmal: Wir wünschen euch allen einen guten, erfolgreichen Tag gegen Homo-, Bi-, Trans-, Inter- und Aspec*-Feindlichkeit! Ursprünglich als „Internationaler Tag gegen Homophobie“ gegründet, hat er in den letzten Jahren einige Buchstaben hinzugewonnen. Unser Beitrag heute wirft ein kleines Streiflicht auf Ace- und Aro-Feindlichkeit.

Allerdings: Queerfeindliche Positionen interessiert es nicht, ob eine Person ace, lesbisch, bi, schwul und/oder trans ist. Sie haben ihr festes Schema von der Welt und bestehen darauf, dass wir alle in die von ihnen genehmigten Ausstechförmchen passen. Ein paar von uns werden deshalb zum Beispiel in Heidelberg und Karlsruhe bei Veranstaltungen und Demos anwesend sein. Vielleicht findet ihr noch eine Veranstaltung in eurer Stadt, die ihr unterstützen könnt?

Für Menschen, die lieber nicht rausgehen, gibt es einen Vorleseabend auf dem Aspec*German-Discord-Server.

 

Wieso besteht ihr auf ein A in IDAHOBITA?

Und schon sind wir mittendrin im Thema. Feindlichkeit äußert sich zwar auch in tätlicher Gewalt, aber die Ursachen davon beginnen schon viel früher. Nämlich in den Köpfen.

So ist auch Feindlichkeit gegenüber ace und aro Menschen zuerst eine Frage von Einstellungen und Glaubenssätzen. Wie soll eine Gesellschaft beschaffen sein? Was macht einen Menschen aus, den wir als wertvoll anerkennen? Wenn Menschen davon ein enges Bild haben, versuchen sie häufig, ihre Version anderen aufzuzwingen.

Jede geschlechtliche, sexuelle und romantische Minderheit begegnet sowohl allgemeinen wie auch spezifischen Varianten von Queerfeindlichkeit.

Warum die Feindlichkeit gegen asexuelle und aromantische Menschen spezielle Formen annimmt, beschreiben die Begriffe Allonormativität und Amatonormativität.

Allonormativität und Amatonormativität

„Normativität“ bedeutet hier, dass ein bestimmter gesellschaftlicher Sachverhalt als „normal“ und wünschenswert gilt.

„Allo“ kommt von „allosexuell“. Damit sind Menschen gemeint, die nicht zum asexuellen Spektrum gehören. „Allonormativ“ beschreibt also die Annahme, dass alle Menschen sexuelle Anziehung kennen und diese Anziehung auch ausleben möchten.

„Amato“ meint Liebe und Zärtlichkeit. „Amatonormativ“ bedeutet, dass romantische Liebe und romantische Beziehungen als sehr wichtig und erfüllend eingestuft werden. Deshalb wird angenommen, dass alle Menschen eine romantische Beziehung suchen.

Menschen, die diese unausgesprochenen Erwartungen nicht erfüllen, erleben oft unerfreuliche Reaktionen. Zum Beispiel …

 

Pathologisierung

Pathologisierung bedeutet, dass etwas als „krank“ eingestuft wird, das gar nichts mit einer Krankheit zu tun hat. So nehmen viele Menschen an, dass ace und aro Menschen irgendwie krank seien, weil ihnen nach landläufiger Meinung etwas Wichtiges fehlt. Bei einem Coming-out werden ace und aro Menschen daher oft mit Diagnosen konfrontiert. Selbst wenn das nett gemeint ist, tut das weh. Es führt außerdem dazu, dass sich viele ace und aro Menschen als „kaputt“ wahrnehmen, bevor sie ihre Label finden. Sie haben dann solche Botschaften verinnerlicht.

Bis 2016 kam in Medienberichten über Asexualität sehr häufig eine Person aus der Medizin zu Wort, die über mögliche „Ursachen“ des vermeintlichen Mangels spekuliert. Heutzutage finden sich solche Vermutungen vor allem in den Kommentarspalten – prominenten Beispielen zum Trotz.

 

Infantilisierung

Infantilisierung bedeutet, dass Menschen als unreif oder kindlich dargestellt werden. In unserer Gesellschaft haben die „erste Liebe“, der „erste Kuss“, das „erste Mal“, Heiraten und Elternschaft einen festen Platz in Erzählungen vom Erwachsenenwerden. Wenn Menschen diesen Dingen keine Bedeutung beimessen oder diese Dinge nicht erlebt haben, werden sie oft als „unfertig“ oder unreif wahrgenommen. Ace und aro Menschen werden daher oft auf später vertröstet: „Ach, der/die Richtige kommt schon noch.“ Sie begegnen – wie andere alleinstehende Menschen auch – oft Fragen danach, wann sie denn endlich eine romantische Beziehung eingehen / sich häuslich niederlassen / für Enkelkinder sorgen, als sei dies der einzige Gradmesser für ein erfülltes Erwachsenenleben.

Invalidierung

Invalidierung bedeutet, dass etwas wertlos oder unwichtig gemacht wird. Sowohl Pathologisierung als auch Infantilisierung dienen oft dazu, Aussagen von asexuellen und aromantischen Menschen als unwichtig darzustellen. Dadurch kann sich das Publikum beruhigt zurücklehnen: Unreifen oder kranken Menschen muss man ja nicht glauben, was sie über ihre sexuelle oder romantische Orientierung sagen.

Eine andere Strategie ist, Aussagen über eine Orientierung als kurzfristig oder allgemein umzudeuten. „Das geht doch allen mal so.“ „Das ist doch nur eine Phase.“ „Das ist in deinem Alter doch normal.“ „Sexualität ist fluide. Das kann sich also noch ändern.“ Und so weiter.

All dies dient außerdem dazu, die Aussagen von Aces und Aros als weniger politisch erscheinen zu lassen.

Damit machen wir für heute Schluss, obwohl wir das Ende der traurigen Parade noch lange nicht erreicht haben. Ein Sachbuch über Ace- und Arofeindlichkeit ist (un)sichtbar gemacht von Annika Baumgart und Katharina Kroschel. Außerdem empfehlen wir die Podcastfolgen von InSpektren über A*spec-Feindlichkeit und Allonormativität.

AktivistA & Aspec*German beim CSD Karlsruhe

Der Pride Month und damit die ersten CSDs in Baden-Württemberg sind nicht mehr lange hin …

https://www.csd-karlsruhe.de/wp-content/uploads/CSD2023_Motto.jpg

Zum CSD Karlsruhe am 3. Juni kommt AktivistA mit einem Infostand und einer erweiterten Button-Kollektion. Außerdem werden wir wie immer Infos, Flaggen, Sticker und Armbänder im Gepäck haben. Dieses Jahr ist auch wieder ein Glücksrad geplant.

Die Demoparade werden wir gemeinsam mit Aspec*German heimsuchen. Das Ziehwägelchen wird im Getümmel wahrscheinlich eher untergehen, die Flaggen hoffentlich weniger. Falls noch wer mitdemonstrieren will, freuen wir uns, wenn ihr vorher kurz über die einschlägigen Kanäle wie Discord oder die verschiedenen BaWü-Gruppen Bescheid gebt. Leider müssen wir nach Personenzahl Ordnende stellen. (Wer zu Signal, WhatsApp oder einer ganz altmodischen Mailingliste für Baden-Württemberg möchte, melde sich bitte bei uns.)

Damit bleibt uns nur noch, auf trockenes und nicht allzu heißes Wetter zu hoffen und uns ganz vorsichtig auf euch vorzufreuen.

Offener Brief an Sat1

Von mehreren Seiten erreichten AktivistA Hinweise auf einen Online-Artikel, den wir so nicht stehen lassen konnten, da wir uns beim Lesen direkt in die schlechte alte Zeit zurückversetzt fühlten: https://www.sat1.de/themen/ratgeber/news/asexualitat-definition-und-ursachen-der-lustlosigkeit-51984. (Content Notes: Acefeindlichkeit, Ignoranz gegenüber dem Bi+-Spektrum und m-spec Personen, Pathologisierung, Allonormativität u.a.)

 

Sehr geehrtes Team der Sat1.de-Redaktion,

(…)

Asexualität ist eine sexuelle Orientierung. Asexuelle Menschen (Aces) empfinden sehr geringe bis keine oder sehr selten sexuelle Anziehung. Wie die eigene Asexualität empfunden und ausgelebt wird, ist sehr persönlich, weshalb sie als ein Spektrum verstanden wird, auf dem sich eine Person selbst verortet.

Eine gemeinsame Erfahrung aller auf dem asexuellen Spektrum ist das Unwissen, das ihnen begegnet, wenn sie öffentlich oder privat über ihre Sexualität sprechen. Oft äußert es sich in taktloser, unbeholfener Neugier, in etwa der Frage: „Masturbierst du?“ Aces werden aber auch mit Meinungen und Urteilen konfrontiert, die auf der Überzeugung basieren, dass es Asexualität nicht gebe und es sich stattdessen um eine fixe Idee, eine Krankheit, einen Charakterfehler oder etwas Widernatürliches handle. Ihre Erfahrungen werden ignoriert und stattdessen Vorschläge gemacht, wie sich Asexualität „heilen“ lässt.

Ein gutes Beispiel dafür bietet der Artikel „Keine Lust auf Sex. Asexualität: Definition und Ursachen der Lustlosigkeit“. Der Grund dafür ist einfach. Obwohl in der Überschrift von einer „Definition“ die Rede ist, wird im Text keine erwähnt, die sich mit einer kurzen Recherche in Internet oder Fachliteratur zitieren und belegen ließe. Aces wurden keine befragt.

„Lustlosigkeit“

In der Überschrift, aber auch an anderen Stellen wird Asexualität mit „Lustlosigkeit“ gleichgesetzt. Zur Erinnerung: Wie jede sexuelle Orientierung geht es bei Asexualität um sexuelle Anziehung. Bei dem, was sich als „Lust“ oder „Erregung“ bezeichnen lässt, handelt es sich um Libido. Manche Aces haben eine starke Libido, andere eine verschwindend geringe und viele verorten sich dazwischen. Manche stillen sie durch Masturbation, andere nicht. Darin unterscheiden sie sich nicht von anderen Menschen.

Zu schreiben, Aces „(…) empfinden keinerlei Erregung (…)“ ist also falsch. Weiter im Satz heißt es außerdem „(…) oder aber haben keinen Spaß daran, ihre Sexualität auszuleben“, was schon dann nicht stimmt, wenn eine Person das körperliche Empfinden der Masturbation genießt.

Gefährliche Mutmaßungen

Was ist die Ursache der behaupteten Lustlosigkeit? Vage wird von „Hormonmangel“, „emotionalen“ oder „psychischen Problemen“, „frühen negativen sexuellen Erfahrungen“ und „Wissenschaftlern“ gemunkelt, die „eine Fehlfunktion in denjenigen Arealen im Gehirn, die das Verlangen steuern“, vermuten. Asexualität wird hier mit einem Libidoverlust durch innere und äußere medizinische Einflüsse gleichgesetzt. Das ist gefährlich. Zum einen wird vollkommen gesunden, asexuellen Person nahegelegt, sich unnötigen Behandlungen auszusetzen: „Ziehen Sie möglicherweise einen Arzt zurate, der dem Partner Ihre Situation erklären kann.“ Personen, die Asexualität nicht kennen oder nicht an sie glauben wollen, egal, ob medizinische geschult oder nicht, werden so ermutigt, Mutmaßungen über Ursachen anzustellen und schlimmstenfalls ihre Art der „Heilung“ anzubieten. Dies entspricht einer verdeckten Konversionsmaßnahme.

Zur „Diagnose“ in vier Fragen

Ein sehr schlichtes Beispiel einer solchen Fremddiagnose bietet der Text selbst an. Es werden vier Fragen gestellt. Falls eine Person „die meisten“ dieser Fragen mit „Nein“ beantwortet, sei sie asexuell.

1. „Fühlen Sie sich zu einem Geschlecht klar hingezogen?“

Personen, die sich nicht nur zu einem Geschlecht hingezogen fühlen, können, gehen wir von sexueller Anziehung aus, vieles sein, zum Beispiel pan- und bisexuell. Mit Asexualität hat all das nichts zu tun. Wer hier mit „Nein“ antwortet, ist also vielleicht nicht hetero- oder homosexuell, aber deswegen noch lange nicht asexuell.

2. „Machen Erotikfilme Sie an?“

Es gibt Menschen auf dem asexuellen Spektrum, die keine sexuelle Anziehung zu anderen empfinden, aber textliche, bildliche oder akustische Darstellungen sexueller Handlungen erregend finden, ohne selbst an sexuellen Handlungen teilnehmen zu wollen. Manche dieser Menschen bezeichnen sich als aegosexuell. Und auch andere Aces haben womöglich ein ästhetisches Interesse an menschlichen Körpern oder schätzen Erotik als dramaturgisches Element eines Films oder Kunstwerks. Andere haben nichts für sie übrig oder finden sie unangenehm, sind deswegen aber noch lange nicht einfach nur „prüde“, wie diese Frage suggeriert.

3. „Ist sexuelle Erregung für Sie ein unangenehmes Gefühl?“

Diese Frage scheint ebenfalls auf der Annahme zu basieren, dass Aces ein wie auch immer geartetes Problem mit ihrer Libido haben. Auch hier reicht das Spektrum in vielen Zwischenschritten von der Zufriedenheit mit fehlender Libido bis hin zu akzeptierender Gleichgültigkeit und der Freude an ihrer Stillung durch Masturbation.

Ansonsten fehlt hier wie auch im restlichen Text das Lektorat, denn nach der texteigenen Logik müsste ein asexuelle Person die Frage mit „Ja“ beantworten. Eine andere, perfide Erklärung wäre, dass eine asexuelle Person ja „eigentlich“ sexuelle Erregung empfinde und genieße, aber sich „nur anstellt“, wenn der Sex mit anderen praktiziert werden soll.

4. „Fühlen Sie sich bei dem Gedanken an Intimität wohl?“

Mit gutem Gewissen können wir den Autor*innen hier unterstellen, Intimität mit Sexualität gleichzusetzen. Was aber ist mit Händchenhalten, Kuscheln, langen Gesprächen, gemeinsamen Wohnen, dem Anvertrauen von Geheimnissen, der Pflege von kranken Freunden oder Angehörigen? Es gibt viel mehr Formen von Intimität als Sex, und Aces zu unterstellen, sie wären zu ihr nicht in der Lage, spricht ihnen Menschlichkeit ab.

„Asexuelle Menschen lieben dennoch Zärtlichkeiten“

Im letzten Abschnitt macht der Text einen halbgaren Rückzieher und gesteht Aces trotzdem ein Interesse an „Zärtlichkeiten“ zu, ein Wunsch, dessen Erfüllung ihre Asexualität aber zu verhindern scheint. Es wird empfohlen: „Auch wenn es schwer ist, mit diesem Phänomen Akzeptanz beim Partner zu erzielen, sollten Sie sich, sofern Sie sich betroffen fühlen, diesem wichtigen Gespräch stellen“, danach folgt der bereits zitierte Ratschlag: „Ziehen Sie möglicherweise einen Arzt zurate“. Nicht nur wird „Zärtlichkeit“ mit Sex gleichgesetzt, so als ob nicht auch Familienangehörige oder Freund*innen zärtlich miteinander umgehen könnten. Akzeptanz wird hier an eine Bedingung geknüpft, nämlich den Versuch, sich zu bessern und zu wissen, dass den Erwartungen des nicht asexuellen Partners entsprochen werden muss. Der Weg zur „Heilung“ ist also Selbstverleugnung und Entmündigung.

Beschämend

Warum ein solcher Text existiert, obwohl das Internet seit 2005 die verschiedensten Quellen und Erfahrungen asexueller Personen auf Deutsch bereitstellt, ist unverständlich. Falls es kein böser Wille ist, unterstellen wir daher Faulheit oder Unfähigkeit. Beides ist schädlich. Auch dann, wenn ein Artikel so kurz ist wie dieser, wäre ein nuancierte Darstellung möglich, z. B. mit einer gebräuchlichen Definition und dem Hinweis, dass Aces aus unterschiedlichsten Gründen (Kinderwunsch, um Partner*innen eine Freude zu machen, Genuss der körperlichen Empfindungen) Sex haben können. Dass daran nie Interesse bestanden haben dürfte, zeigt das Fehlen jeglicher Quellenangaben, was für ein Medium mit der Größe von Sat1 schlichtweg beschämend ist.

Tief ist der Brunnen der Vergangenheit: „Flecken“ von Christian Meyer

Im Original deutschsprachige Romane mit Protagonist*innen aus dem asexuellen Spektrum sind rar gesät. Im vergangenen Jahr kam mit Flecken von Christian Meyer erfreulicherweise einer hinzu.

Die Ausgangssituation erinnert vage an Wir kommen von Ronja von Rönne – der Protagonist Erik, aufgewachsen in einem kleineren Ort und mittlerweile längst in einer Großstadt wohnhaft, erhält die Nachricht vom Tod seiner Jugendfreundin Neele. Der Heimatort irgendwo in Schleswig-Holstein wird stets nur als „Flecken“ bezeichnet und gibt dem Buch seinen Titel. Die Geschichte wird nicht chronologisch erzählt: Auf ein Kapitel in der Gegenwart (Neeles Beerdigung und die Tage danach) folgt jeweils eins, das Eriks und Neeles gemeinsames Leben nachzeichnet und zwar rückwärts, von ihrer letzten Begegnung bis in ihre frühe Kindheit. Dieser Aufbau macht den Roman sehr spannend, aber auch schwierig zu lesen. Vieles wird erst später verständlich, bei manchen Details wird dem Leser erst später klar, dass sie wichtig waren. Dadurch wird Eriks Situation nachvollziehbar; er erhält Informationen, die Neele und ihn selbst betreffen, nach und nach, seine Reise in die Vergangenheit gestaltet sich immer wieder schmerzlich und unbequem.

Neele hat sich das Leben genommen, nachdem Erik etwa zwanzig Jahre lang nichts mehr von ihr gehört hatte. Hätte er sie retten können? Ist man überhaupt verpflichtet, andere zu retten, oder ist jeder Mensch für sich selbst verantwortlich? Diese Fragen ziehen sich durch den gesamten Roman. Neele hat Dinge von Erik erwartet, die er ihr nicht geben konnte. Die unterschiedliche sexuelle Orientierung war dabei nur eines von mehreren Problemen. Ihr Leben lang haben sie einander sehr nahegestanden, ihr Verhältnis ist immer komplizierter geworden und schließlich hat Erik den Kontakt abgebrochen, da sie sich in einer Sackgasse befanden. In den Tagen nach der Beerdigung erfährt er zwei lang verschwiegene Geheimnisse, die er vielleicht immer geahnt hat.

Sexuelles Begehren ist Erik immer ein Rätsel gewesen. Seine Empfindungen und Erfahrungen dürften für viele Menschen aus der Community nachvollziehbar sein. Menschen schön, aber nicht heiß finden, nicht wissen, wie man sich verhalten soll, wenn man angebaggert wird – derartige Ace Moments werden vom Autor treffend geschildert. Dabei hat die Hauptfigur selbst eigentlich kein Bedürfnis nach einem Label und macht Dinge generell gern mit sich selbst aus. Es ist sein Umfeld, das ihn mit Erwartungen unter Druck setzt und Erklärungen von ihm verlangt. „Wenn man asexuell ist, dann ist es sicher das Schlimmste, dass die meisten Leute das nicht verstehen, entsprechend engstirnig reagieren und ständig damit nerven, weil sie einen unbedingt in eine Schublade stecken wollen und einfach nicht akzeptieren wollen, dass es so was auch gibt.“, sinniert der fast achtzehnjährige Erik. Da hat Neele ihn gerade mit den Ergebnissen ihrer Internet-Recherchen konfrontiert. Wir befinden uns etwa im Jahr 2000, daher ist es historisch stimmig, dass die Typen von A bis D aufgezählt werden, die damals angesagt waren und heute längst als veraltet gelten. Das Wort „Aromantiker“ fällt ebenfalls – hat man es damals schon verwendet oder haben wir es hier mit einem kleinen Logikfehler zu tun? Jonas Trochemowitz könnte es wohl genauer sagen. 🙂

Als Mann kann er es eigentlich nie richtig machen, zu diesem Schluss kommt Erik immer wieder. Entweder wird ihm pauschal Lüsternheit unterstellt („Frauen denken, ich schaue ihnen auf den Hintern und will sofort mit ihnen schlafen, ich weiß am Strand nie, wohin ich gucken soll.“) oder er ist ein Weichei bzw. homosexuell. „Schwul“ wird im Flecken gern als Schimpfwort verwendet, als Anlass reicht schon die Tatsache aus, dass ein Mann keinen Alkohol trinkt. Neele kommt zwar als Jugendliche im Rahmen eines Workshops mit Ideen von Judith Butler und Simone de Beauvoir in Kontakt, schafft es aber nicht, aus ihren Verhaltensmustern auszubrechen, mit denen sie sich selbst schädigt und deren Ursprung der Leserin im Laufe des Romans klar wird. Sie unterhält wechselnde sexuelle Beziehungen zu häufig wesentlich älteren Männern und leidet immer wieder, wenn ihre Partner sie verlassen. Erik schwärmt sie von der „Macht des Begehrtwerdens“ vor: „Oft fühlt sich alles taub an, aber in solchen Momenten fühle ich mich.“ Dass ihr Kindheitsfreund sie nicht begehrt, wurmt sie, gleichzeitig möchte sie von ihm beschützt werden. Der appelliert an ihre Eigenverantwortung und möchte sich generell seine Neutralität bewahren, niemanden verurteilen und selbst nicht in Schubladen gesteckt werden.

Während seines Aufenthalts im Flecken wird er immer wieder gefragt, warum er keine Partnerin habe. Dabei haben ihn seine Eltern ebenso wie sein bester Freund Bruno stets bedingungslos akzeptiert, Gleiches gilt für seine beiden besten Freundinnen in seiner Wahlheimat Wien, ein lesbisches Paar mit Kinderwunsch. In einer idealen Welt wären Erklärungen und Outings gar nicht notwendig, dies ist eine Botschaft, die der Roman vermittelt. Keine einfache, aber durchaus eine empfehlenswerte Lektüre.

Christian Meyer: Flecken. Erschienen 2022 im Verlag Voland & Quist GmbH, 304 S.