Von mehreren Seiten erreichten AktivistA Hinweise auf einen Online-Artikel, den wir so nicht stehen lassen konnten, da wir uns beim Lesen direkt in die schlechte alte Zeit zurückversetzt fühlten: https://www.sat1.de/themen/ratgeber/news/asexualitat-definition-und-ursachen-der-lustlosigkeit-51984. (Content Notes: Acefeindlichkeit, Ignoranz gegenüber dem Bi+-Spektrum und m-spec Personen, Pathologisierung, Allonormativität u.a.)

 

Sehr geehrtes Team der Sat1.de-Redaktion,

(…)

Asexualität ist eine sexuelle Orientierung. Asexuelle Menschen (Aces) empfinden sehr geringe bis keine oder sehr selten sexuelle Anziehung. Wie die eigene Asexualität empfunden und ausgelebt wird, ist sehr persönlich, weshalb sie als ein Spektrum verstanden wird, auf dem sich eine Person selbst verortet.

Eine gemeinsame Erfahrung aller auf dem asexuellen Spektrum ist das Unwissen, das ihnen begegnet, wenn sie öffentlich oder privat über ihre Sexualität sprechen. Oft äußert es sich in taktloser, unbeholfener Neugier, in etwa der Frage: „Masturbierst du?“ Aces werden aber auch mit Meinungen und Urteilen konfrontiert, die auf der Überzeugung basieren, dass es Asexualität nicht gebe und es sich stattdessen um eine fixe Idee, eine Krankheit, einen Charakterfehler oder etwas Widernatürliches handle. Ihre Erfahrungen werden ignoriert und stattdessen Vorschläge gemacht, wie sich Asexualität „heilen“ lässt.

Ein gutes Beispiel dafür bietet der Artikel „Keine Lust auf Sex. Asexualität: Definition und Ursachen der Lustlosigkeit“. Der Grund dafür ist einfach. Obwohl in der Überschrift von einer „Definition“ die Rede ist, wird im Text keine erwähnt, die sich mit einer kurzen Recherche in Internet oder Fachliteratur zitieren und belegen ließe. Aces wurden keine befragt.

„Lustlosigkeit“

In der Überschrift, aber auch an anderen Stellen wird Asexualität mit „Lustlosigkeit“ gleichgesetzt. Zur Erinnerung: Wie jede sexuelle Orientierung geht es bei Asexualität um sexuelle Anziehung. Bei dem, was sich als „Lust“ oder „Erregung“ bezeichnen lässt, handelt es sich um Libido. Manche Aces haben eine starke Libido, andere eine verschwindend geringe und viele verorten sich dazwischen. Manche stillen sie durch Masturbation, andere nicht. Darin unterscheiden sie sich nicht von anderen Menschen.

Zu schreiben, Aces „(…) empfinden keinerlei Erregung (…)“ ist also falsch. Weiter im Satz heißt es außerdem „(…) oder aber haben keinen Spaß daran, ihre Sexualität auszuleben“, was schon dann nicht stimmt, wenn eine Person das körperliche Empfinden der Masturbation genießt.

Gefährliche Mutmaßungen

Was ist die Ursache der behaupteten Lustlosigkeit? Vage wird von „Hormonmangel“, „emotionalen“ oder „psychischen Problemen“, „frühen negativen sexuellen Erfahrungen“ und „Wissenschaftlern“ gemunkelt, die „eine Fehlfunktion in denjenigen Arealen im Gehirn, die das Verlangen steuern“, vermuten. Asexualität wird hier mit einem Libidoverlust durch innere und äußere medizinische Einflüsse gleichgesetzt. Das ist gefährlich. Zum einen wird vollkommen gesunden, asexuellen Person nahegelegt, sich unnötigen Behandlungen auszusetzen: „Ziehen Sie möglicherweise einen Arzt zurate, der dem Partner Ihre Situation erklären kann.“ Personen, die Asexualität nicht kennen oder nicht an sie glauben wollen, egal, ob medizinische geschult oder nicht, werden so ermutigt, Mutmaßungen über Ursachen anzustellen und schlimmstenfalls ihre Art der „Heilung“ anzubieten. Dies entspricht einer verdeckten Konversionsmaßnahme.

Zur „Diagnose“ in vier Fragen

Ein sehr schlichtes Beispiel einer solchen Fremddiagnose bietet der Text selbst an. Es werden vier Fragen gestellt. Falls eine Person „die meisten“ dieser Fragen mit „Nein“ beantwortet, sei sie asexuell.

1. „Fühlen Sie sich zu einem Geschlecht klar hingezogen?“

Personen, die sich nicht nur zu einem Geschlecht hingezogen fühlen, können, gehen wir von sexueller Anziehung aus, vieles sein, zum Beispiel pan- und bisexuell. Mit Asexualität hat all das nichts zu tun. Wer hier mit „Nein“ antwortet, ist also vielleicht nicht hetero- oder homosexuell, aber deswegen noch lange nicht asexuell.

2. „Machen Erotikfilme Sie an?“

Es gibt Menschen auf dem asexuellen Spektrum, die keine sexuelle Anziehung zu anderen empfinden, aber textliche, bildliche oder akustische Darstellungen sexueller Handlungen erregend finden, ohne selbst an sexuellen Handlungen teilnehmen zu wollen. Manche dieser Menschen bezeichnen sich als aegosexuell. Und auch andere Aces haben womöglich ein ästhetisches Interesse an menschlichen Körpern oder schätzen Erotik als dramaturgisches Element eines Films oder Kunstwerks. Andere haben nichts für sie übrig oder finden sie unangenehm, sind deswegen aber noch lange nicht einfach nur „prüde“, wie diese Frage suggeriert.

3. „Ist sexuelle Erregung für Sie ein unangenehmes Gefühl?“

Diese Frage scheint ebenfalls auf der Annahme zu basieren, dass Aces ein wie auch immer geartetes Problem mit ihrer Libido haben. Auch hier reicht das Spektrum in vielen Zwischenschritten von der Zufriedenheit mit fehlender Libido bis hin zu akzeptierender Gleichgültigkeit und der Freude an ihrer Stillung durch Masturbation.

Ansonsten fehlt hier wie auch im restlichen Text das Lektorat, denn nach der texteigenen Logik müsste ein asexuelle Person die Frage mit „Ja“ beantworten. Eine andere, perfide Erklärung wäre, dass eine asexuelle Person ja „eigentlich“ sexuelle Erregung empfinde und genieße, aber sich „nur anstellt“, wenn der Sex mit anderen praktiziert werden soll.

4. „Fühlen Sie sich bei dem Gedanken an Intimität wohl?“

Mit gutem Gewissen können wir den Autor*innen hier unterstellen, Intimität mit Sexualität gleichzusetzen. Was aber ist mit Händchenhalten, Kuscheln, langen Gesprächen, gemeinsamen Wohnen, dem Anvertrauen von Geheimnissen, der Pflege von kranken Freunden oder Angehörigen? Es gibt viel mehr Formen von Intimität als Sex, und Aces zu unterstellen, sie wären zu ihr nicht in der Lage, spricht ihnen Menschlichkeit ab.

„Asexuelle Menschen lieben dennoch Zärtlichkeiten“

Im letzten Abschnitt macht der Text einen halbgaren Rückzieher und gesteht Aces trotzdem ein Interesse an „Zärtlichkeiten“ zu, ein Wunsch, dessen Erfüllung ihre Asexualität aber zu verhindern scheint. Es wird empfohlen: „Auch wenn es schwer ist, mit diesem Phänomen Akzeptanz beim Partner zu erzielen, sollten Sie sich, sofern Sie sich betroffen fühlen, diesem wichtigen Gespräch stellen“, danach folgt der bereits zitierte Ratschlag: „Ziehen Sie möglicherweise einen Arzt zurate“. Nicht nur wird „Zärtlichkeit“ mit Sex gleichgesetzt, so als ob nicht auch Familienangehörige oder Freund*innen zärtlich miteinander umgehen könnten. Akzeptanz wird hier an eine Bedingung geknüpft, nämlich den Versuch, sich zu bessern und zu wissen, dass den Erwartungen des nicht asexuellen Partners entsprochen werden muss. Der Weg zur „Heilung“ ist also Selbstverleugnung und Entmündigung.

Beschämend

Warum ein solcher Text existiert, obwohl das Internet seit 2005 die verschiedensten Quellen und Erfahrungen asexueller Personen auf Deutsch bereitstellt, ist unverständlich. Falls es kein böser Wille ist, unterstellen wir daher Faulheit oder Unfähigkeit. Beides ist schädlich. Auch dann, wenn ein Artikel so kurz ist wie dieser, wäre ein nuancierte Darstellung möglich, z. B. mit einer gebräuchlichen Definition und dem Hinweis, dass Aces aus unterschiedlichsten Gründen (Kinderwunsch, um Partner*innen eine Freude zu machen, Genuss der körperlichen Empfindungen) Sex haben können. Dass daran nie Interesse bestanden haben dürfte, zeigt das Fehlen jeglicher Quellenangaben, was für ein Medium mit der Größe von Sat1 schlichtweg beschämend ist.

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6 Comments on Offener Brief an Sat1

  1. Vielen Dank für die Sachliche Aufarbeitung! Ich hoffe stark, dass der Artikel entfernt wird oder richtig gestellt wird!! Mega traurig, dass in 2023 immernoch von Asexualität als Krankheit oder etwas Heilbarem in so großen Medien ausgegangen wird!

    • Gern. Leider ist der Artikel nicht namentlich unterschrieben, was schon mal an sich ein schlechtes Zeichen ist (Zeitungen und Zeitschriften bekommen das ja üblicherweise auf die Reihe). Inwieweit sich das in personellen Konseuquenzen äußert – da dürfen wir gespannt sein.

  2. Also ich bin sprachlos bzw. wütend, dass so ein Artikel im Jahr 2023, wo wir doch angeblich so tolerant, und gegen Diskriminierung sind existiert und noch veröffentlicht wird.
    Wenn dieser Artikel über Homosexuelle Menschen handeln würde, würde ich sagen das ist homophob.

    Ich würde mich wirklich gerne mit solchen Menschen unterhalten, den ich habe auch immer gedacht, das meine nicht gerade rosige Kindheit, (dabei geht es nicht um sexuellen missbraucht )und den damit einhergehende psychischen Probleme daran schuld sind, das ich ein solches ,,Defizit“ habe.
    Nun war ich aber ab meinem 13. bis 29. Lebensjahr, mal mehr, mal weniger in psychologischer Behandlung. Habe mich immer weiter reflektiert und überprüft, aber dennoch immer gefühlt, das eine teil von mir noch nicht am richtigen Platz ist. Obwohl ich mich noch nie besser gefühlt habe als jetzt mit 36 Jahren, habe ich mich nie als sexuellen oder romantischen Menschen gesehen, und hätte nicht gedacht, dass es genau dieser Teil meiner selbst ist der für mich gefehlt hat.

    Ich habe dann vor kurzem, doch endlich den Mut gefunden Asexualität zu googeln. War ja schließlich nicht so als ob ich nicht ein Verdacht gehabt hätte, das diese Schublade für mich passt.
    Wenn ich das Wissen, welches ich nun über das Ace und Aro Spektrum, mit 16 gehabt hätte, wäre es mir in manchen Bereichen meines Lebens besser gegangen, und ich hätte viele Dinge, von der die Gesellschaft sagt das es total ,,normal“ ist nicht getan, da diese mir noch mehr geschadet haben.

    Wenn nach all den was ich erlebt und erfahren habe, Menschen immer noch der Meinung sind ich sei nicht richtig, kein Problem ich gehe auch noch mal zum Psychologen und lasse mein ,,Defizit“ analysieren.
    Aber auch der wird mich beglückwünschen, und sich vermutlich sogar mit mir freuen, das nun alle teile passen….

  3. Ich bin asexuell. Was ich als äußerst befreiend empfinde.
    Sicher hat es nichts mit Lustlostigkeit zu tun, sondern ist tatsächlich eine Entscheidung. Vorallem dann, wenn man nicht ohne innige Liebe die Sexualität leben möchte.
    Ich fühle mich in diesem Zustand sehr wohl, empfinde keinerlei Nachteile, sondern als echte Befreiung, da ich nicht muss und nicht ankämpfen muss gegen die sexualität. Mehr Freiheit geht.

    • Hallo Aline,

      es ist sehr wichtig, zu wissen, was mensch tun und worauf mensch sich einlassen möchte oder nicht. Gut, dass Du Dir da sicher bist.

      Allerdings möchte ich darauf hinweisen, dass Asexualität kein „Zölibat“ oder eine bewußte Entscheidung ist, sondern eine sexuelle Orientierung.

      Ich schreibe das aus folgendem Grund: Wenn das Missverständnis aufkommt, dass Asexualität eine Entscheidung sei, folgt daraus, dass sich eine Person auch anders entscheiden könnte und ihre Orientierung somit „heilbar“ ist oder durch Überzeugung verändert werden kann. Außerdem wird dadurch indirekt bekräftigt, dass sexuelle Anziehung und (mit anderen durchgeführte) sexuelle Tätigkeiten „normal“ seien und es für ihre Abwesenheit immer einen Grund geben muss, in diesem Fall eine Entscheidung.

      Das schreibe ich aber nur für andere, die hier womöglich mitlesen, Du kannst Dich selbstverständlich so bezeichnen, wie Du möchtest.

      Alles Gute!

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