Vor knapp zwei Jahren versprachen SPD, Grüne und FDP mit ihrem Koalitionsvertrag LSBTQIA+ einen queerpolitischen Aufbruch, der bis heute ausblieb. Zum Jahrestag der Verabschiedung des „Aktionsplans Queer Leben“ am 18.11.2023 hat AktivistA gemeinsam mit 35 anderen queeren Organisation einen offenen Brief des LSVD an Bundeskanzler Scholz und alle Kabinettsmitglieder veröffentlicht.

„Sehr geehrter Herr Bundeskanzler, sehr geehrte Kabinettsmitglieder,

nach der Einführung der Lebenspartnerschaft, der anschließenden Öffnung der Ehe und der Einführung eines dritten positiven Geschlechtseintrags hatten wir große Hoffnung, queere Lebensweisen und Identitäten würden nun in all ihrer Vielfalt endgültig Teil gesellschaftlicher Normalität. Derzeit erleben wir jedoch einen deutlichen gesellschaftlichen Backlash: Die
Akzeptanzwerte zu sexueller und geschlechtlicher Vielfalt sinken erstmals seit Jahrzehnten, „soziale“ Medien werden gezielt als Resonanzräume für menschenverachtende Queerfeindlichkeit instrumentalisiert, die homo- und transfeindliche Gewalt auf der Straße nimmt merklich und messbar zu. Hinzu kommen die letzten Wahlerfolge der AfD, die sich wiederholt mit queerfeindlichen und rechtsextremen Parolen positioniert. Diese Entwicklungen machen uns Angst.

Vor knapp zwei Jahren haben SPD, Grüne und FDP mit ihrem Koalitionsvertrag den Lesben, Schwulen und Bisexuellen sowie trans* und intergeschlechtlichen bzw. queeren und asexuellen
Menschen (LSBTIQA) in Deutschland einen queerpolitischen Aufbruch versprochen. Zwar gelangen Ihrer Regierung in einzelnen Bereichen Erfolge: So haben Sie die Erfassung und Strafzumessung mit Bezug auf queerfeindliche Straftaten verbessert, für einen Abbau von Diskriminierung bei der Blutspende gesorgt, die Lage von LSBTIQA-Geflüchteten wurde durch die Abschaffung des Diskretionsgebots verbessert und das Bundesaufnahmeprogramm Afghanistan für bedrohte LSBTIQA-Personen geöffnet. Auch hat Ihre Regierung die EU-Klage gegen Ungarn wegen LSBTIQA-feindlicher Politik unterstützt und kürzlich klargestellt, dass auch gegen LSBTIQA*-Personen gerichtete Menschenrechtsverbrechen international verfolgt werden können.

Dass Ihre Regierung bei den zentralen Punkten jedoch bisher nicht liefert, was sie versprochen hat, ist für uns angesichts der grundsätzlich so großen Einigkeit der Koalitionspartner bei queerpolitischen Themen vollkommen unverständlich und mehr als besorgniserregend. Dies betrifft vor allem die für trans*, inter* und nicht-binäre Personen so dringend notwendige Einführung eines diskriminierungsfreien Selbstbestimmungsgesetzes. Zwar will Ihre Regierung dem entwürdigenden Gutachtenzwang ein längst überfälliges Ende bereiten, jedoch liest sich der Gesetzesentwurf wie ein Misstrauensbekenntnis gegen trans* Personen. Hier gilt es dringend entgegenzuwirken, damit ein Selbstbestimmungsgesetz verabschiedet wird, dass trans*, intergeschlechtliche und nicht-binäre Personen in ihren Grundrechten respektiert.

Ebenso enttäuschend und schmerzhaft ist der Bearbeitungsstand bei der längst überfälligen Reform des Familien- und Abstammungsrechts und der diskriminierungsfreien Förderung reproduktiver Maßnahmen. Hier liegen nicht einmal Eckpunktepapiere vor, geschweige denn Gesetzentwürfe. Wenn Sie hier nicht sehr bald einen Zeitplan für die Umsetzung vorlegen, sind diese Vorhaben in Gänze zum Scheitern verurteilt. Angesichts der gesamtpolitischen Lage würde dies bedeuten, dass für die nächsten Jahre oder gar Jahrzehnte Familien mit zwei Müttern, zwei Vätern oder mit trans* Elternteilen Familien zweiter Klasse bleiben. Dies wäre vor allem für die Kinder, die in diesen Familien aufwachsen, fatal. Denn auch diese Kinder haben ein Recht darauf, dass ihre Familien anerkannt und nicht diskriminiert werden.

Auch haben Sie versprochen, die Strafausnahmen im Gesetz zum Schutz vor Konversionsbehandlungen aufzuheben. Hier ist bisher noch gar nichts passiert. Menschen, die wegen ihrer sexuellen Orientierung und/oder geschlechtlichen Identität mit Fragen, Angst oder Scham kämpfen, werden durch scheinbare „Heilungsversprechen“ systematisch in die Irre geführt und in ihrem Selbstwert verletzt. Konversionsbehandlungen widersprechen nicht nur jeglichen ärztlichen und therapeutischen Standards, sie fügen Patient*innen langfristigen, ernsthaften Schaden zu und treiben manche in den Suizid. Schließen Sie die Gesetzeslücken und verbieten Sie Konversionsbehandlungen auch an Erwachsenen. Hiervon würden vor allem junge Erwachsene profitieren.

Ihre Regierung hat auch versprochen, die Lücken im Gesetz zum Schutz von Kindern mit Varianten der Geschlechtsentwicklung zu schließen und so Umgehungsmöglichkeiten des OP- Verbots zu beseitigen. Ein entsprechender Änderungsvorschlag des Gesetzes liegt bis heute nicht vor. Gleichermaßen wurde angekündigt, dass die Kostenübernahme von geschlechtsangleichenden Maßnahmen durch die GKV gestärkt wird. Auch in diesem Zusammenhang liegt bisher noch kein entsprechender Gesetzesentwurf vor.

Ebenfalls war im Koalitionsvertrag auch eine Reform des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes (AGG) angekündigt worden. Das zuständige Bundesjustizministerium hat jedoch bisher noch keinen Gesetzentwurf vorgelegt. Schutzlücken, kurze Fristen, eine schwierige Beweisführung, das Fehlen eines Verbandsklagerechts und unverhältnismäßig teure Klageverfahren und die Ausnahme staatlicher Stellen halten Betroffene LSBTIQA*-Personen und weitere von Diskriminierungen betroffene Menschen immer noch davon ab, ihre Rechte nach dem AGG einzufordern.

Besonders dringend ist für uns jedoch, dass Bundestag und Bundesrat den Artikel 3 des Grundgesetzes so ergänzen, dass unstreitig sichergestellt ist, dass sowohl die sexuelle Identität als auch die geschlechtliche Identität unter dem vollumfänglichen Schutz des Grundgesetzes stehen. Artikel 3 wurde seinerzeit geschrieben, um die Opfergruppen der Nazi-Verfolgung vor erneuter Diskriminierung und Gewalt zu schützen. Sowohl der Bundestag als auch der Bundesrat müssen nun ein Zeichen setzen, dass auch für die im Nationalsozialismus verfolgte Gruppe der LSBTIQA-Personen gilt: Nie wieder! Es ist vollkommen unverständlich, dass der Bundestag noch im Januar dieses Jahres öffentlich der verfolgten und ermordeten LSBTIQA-Personen gedacht hat, sich aber bislang weigert, ihren Schutz im Grundgesetz zu verankern. Jetzt, da rechtspopulistische und rechtsextreme Parteien wieder stärker werden, da queerfeindliche Gewalt zunimmt und mitunter tödlich endet, gilt es, Fakten zu schaffen, damit queere Menschen auch in zehn oder zwanzig Jahren besser vor Diskriminierung geschützt sind. Hier erwarten wir von der Bundesregierung endlich Initiative: Stellen Sie den nötigen Schulterschluss mit der demokratischen Opposition her und schützen Sie unsere Community vor Diskriminierung und Gewalt.

Der vor einem Jahr vom Bundeskabinett verabschiedete Aktionsplan „Queer leben“ kann einen guten Rahmen darstellen, um im Austausch zwischen Bundesregierung und Zivilgesellschaft die nun dringenden nötigen Schritte zu gehen. Werden die hierin vereinbarten Maßnahmen jedoch nicht endlich finanziell unterlegt, bei der Haushaltsvoranmeldung für 2025 berücksichtigt und werden die hierin aufgegriffenen Reformen nicht mit Nachdruck umgesetzt, droht er ein Feigenblatt zu werden. Hier werden die Kräfte der queeren Zivilgesellschaft auf wenig konstruktive Weise gebunden, während die Community in zunehmender Angst um ihre Rechte und Sicherheit lebt.

Wir fordern Sie daher auf: Sorgen Sie dafür, dass die trans- und interfeindlichen Passagen im geplanten Selbstbestimmungsgesetz gestrichen werden! Legen Sie einen Zeitplan für die Reform des Abstammungsrechts und des AGG vor! Schließen Sie die Lücken im Gesetz zu Konversionsbehandlungen und im OP-Verbot! Und schließlich: Sorgen Sie dafür, dass Sie zusammen mit Linken und Union den Schutz von LSBTIQ* im Grundgesetz verankern! Der queerpolitische Aufbruch droht zu scheitern, wenn wir das Ruder jetzt nicht gemeinsam herumreißen.“

Die folgenden Organisationen haben den offenen Brief in ungekürzter Fassung unterschrieben:

AllOut Deutschland
Aktionsbündnis gegen Homophobie e. V.
AktivistA n.e.V. – Verein zur Sichtbarmachung des asexuellen Spektrums
BASJ – Recht.Queer Bundesarbeitsgemeinschaft schwule Juristinnen
BiNe – Bisexuelles Netzwerk e.V.
CSD Deutschland e.V.
Deutsche Aidshilfe
dgti
– Deutsche Gesellschaft für Transidentität und Intersexualität
djb – Ursula Matthiessen-Kreuder, Präsidentin des Deutschen Juristinnenbundes e.V.
GEW BA Queer – Bundesausschuss Queer der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft
ILGA Europe – International lesbian, gay, bisexual, trans and intersex Organisation
V. – Intergeschlechtliche Menschen e.V.
Lambda e.V. Jugendnetzwerk
Katholisches LSBT+ Komitee
KoFaS – Kompetenzgruppe Fankulturen und Sport bezogene Soziale Arbeit
LesbenRing e.V.
LSVD – Lesben- und Schwulenverband und seine Hirschfeld-Eddy-Stiftung
LesLeFam
DIE LINKE Queer
nonbinary.berlin
HuK – Ökumenische Arbeitsgruppe Homosexuelle und Kirche e.V.
Orden der Schwestern der Perpetuellen Indulgenz – Haus Sankta Melitta Iuvenis e.V.
OutInChurch e.V. – Für eine Kirche ohne Angst
Projekt 100% MENSCH
PROUT AT WORK-Foundation
Queere Bildung Bundesverband mit SCHLAU Rheinland-Pfalz und SCHLAU NRW und Queeres Bildungs- und Antidiskriminierungsprojekt Qube, Greifswald
Queeres Netzwerk Bundesverband mit QueerNet Rheinland-Pfalz e.V. und Queeres Netzwerk NRW e.V.
QueerGrün – Bündnis 90/Die Grünen
SPD Queer
TAAG e.V. – Trierer Archiv für Geschlechterforschung und digitale Geschichte e.V.
TGEU
ver.di-Bundesarbeitskreis Regenbogen (LSBTIQ)
VelsPol – Verband lesbischer und schwuler Polizeibediensteter in Deutschland
VLSP* – Verband für lesbische, schwule, bisexuelle, trans*, intersexuelle und queere Menschen in der Psychologie e. V.
Völkinger Kreis – Alf Spröde, Fachgruppenleiter Public Sector
ZFF – Zukunftsforum Familie

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