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Lesefutter: (Un)Willkommen im „Kein Bock Club“?

Pünktlich zur Frankfurter Buchmesse erschien von Maria Popov das Buch „Kein Bock Club. Warum wir auch mal keine Lust auf Sex haben“.

Maria Popov ist bekannt von der Aufklärungsreihe „Auf Klo“ bei YouTube und arbeitet als Moderatorin und Journalistin, zum Beispiel bei 3sat.

Wer rezensiert hier? Eine weiße aroace cis Frau mit zwei Sachtexten über das asexuelle Spektrum bei Kleinverlagen.

Das Buch "Kein Bock Club" von Maria Popov auf einem Schreibtisch. Das Cover zeigt neben Titel, Untertitel und dem Namen der Autorin auf blauer Grundfarbe eine Illustration von Füßen in den sprichwörtlichen abturnenden weißen Socken.
Das Rezensionsexemplar ist echt selbst gekauft.

 

Worum geht’s?

Ein bisschen irritierte mich zunächst, dass auf dem Klappentext eine andere Beschreibung steht als online. Während „Asexualität“ auf dem hinteren Buchdeckel ziemlich prominent den ersten von zwei Absätzen beendet, ist das online anders:

Sexuelle Lust gilt als Maßstab für Intimität, Beziehungsqualität und persönliche Erfüllung. Doch was passiert, wenn sie ausbleibt? Wenn wir keinen Bock auf Sex haben, obwohl »eigentlich alles stimmt«? Wenn »Ich bin müde« nur eine Umschreibung für etwas ist, das wir selbst kaum benennen können?

Schon in ihrer Jugend hatte Maria Popov nie richtig Bock auf Sex mit Männern und stößt auf ein Wort, das ihr Gefühl zum ersten Mal beschreibt: Asexualität. Aber was heißt das eigentlich genau? …

(Beguckbar unter: https://www.kiwi-verlag.de/buch/maria-popov-kein-bock-club-9783462010145, Hervorhebungen vom Verlag.)

Der Online-Text ist ehrlicher, aber immer noch etwas irreführend, denn um Asexualität als Orientierung geht es kaum. Zwar wird ein wenig ace Literatur zitiert, aber insgesamt ist „Kein Bock Club“ eher als Gesellschaftskritik angelegt. Also: Was hat Sexualität mit Macht zu tun? Und was Sex-Positivität mit Kapitalismus? Welche Erwartungen werden an (cis) Frauen und Männer herangetragen? Was hat Pornographie damit zu tun? Muss ich in Beziehungen dauernd Bock auf Sex haben? Wieso sorgen sich manchmal Medien darüber, dass die Jugend weniger Sex hat als noch vor zehn Jahren? Was können wir von Aces und Aros lernen?

Unter anderem plädiert Maria Popov dafür, sich die Friendzone zurückzuholen, unser Männerbild aufzuweiten (was durchaus auch Männern helfen könnte, sich in der Postmoderne besser zurechtzufinden) und für den Mut, Sex aus dem Mittelpunkt zu rücken.

Der Text streift einige wichtige Themen, ohne sie zu sehr theoretisch zu vertiefen und zu viele Fremdwörter zu verwenden. Der Text sollte sich auch für Uneingeweihte flüssig lesen und kommt ohne laute Schuldzuweisungen aus. Danach kann ihn eins entweder abhaken oder mit den angegebenen Stichworten vertiefen. Dass hinterher wer auf die Barrikaden geht, wage ich zu bezweifeln.

 

Für wen ist das eigentlich?

Kurz: Eher nicht für Menschen, die regelmäßig a*spec Podcasts hören oder eins von den erhältlichen englischsprachigen oder deutschsprachigen Sachbüchern gelesen haben, es sei denn, sie interessieren sich für die sexuelle Rezession.

Außerdem ist das Buch ungeeignet für Menschen, die etwas über die ace und aro Community lernen wollen oder ace oder aro questioning sind.

Super geeignet scheint es mir für vom Feminismus und Heterobeziehungen enttäuschte allosexuelle Personen. Sowie für alle, die sich um die Frage sorgen, warum industrialisierte Gesellschaften einem kollektiven, aber teils unbewussten Sexstreik (und damit Gebärstreik) immer näher rücken zu scheinen.

 

Erstes Manko: Quellen

Ich finde die Quellenangaben teils etwas spärlich. Zum Beispiel werden verschiedene Anziehungsformen vorgestellt. Ein Hinweis, wo sich mehr zum Split Attraction Model nachlesen lässt, fehlt aber, ebenso wie der Name dieses Konzepts. Butch-Femme-Dynamiken werden angerissen und gefühlt tendenziell verurteilt, was ich für die Butches, die ich kennenlernen durfte, nicht so toll finde. Auch da vermisse ich Belege – oder halt den Hinweis, dass es sich um Erfahrungswissen handelt.

Sexualnormen im Islam werden recht differenziert behandelt, aber so etwas bei einem derart aufgeheizten Thema ohne Quelle stehen zu lassen, erscheint mir nachlässig.

 

Zweites Manko: Willkommen im Club?

Trotz einiger wertvoller Quellen und Ideen bleibt ein Geschmäckle, wie eins im Süddeutschen sagt. Ich bin mir nämlich nicht sicher, ob die ace und aro Community, so wie ich sie kenne, zum Club gehört, der im Buch beschrieben ist.

Auf Seite 135: „Seit einigen Jahren gibt es zum Glück neue Studien und Bücher zum Thema Asexualität, wenn auch meistens im englischen Sprachraum …“

Was ist unsere Bücherliste? Leberwurst? Selbst wenn eins die nicht findet oder zu veraltet findet, reicht es aus, bei einem Online-Buchhandel der Wahl „Asexualität“ zu suchen und einige Sachtexte und Belletristik ausgeworfen zu bekommen. Genauso fehlt ein Hinweis auf die mit viel Liebe und Zeit ehrenamtlich erstellten a*spec Podcasts. Ist ja nicht so, als hätte das Buch am Ende nicht 9 (!) freie Seiten, auf denen „Zum Weiterlesen und -hören“ stehen könnte.

Desgleichen Seite 207 über alternative Beziehungsformen: „Die aromantische Community hat viele Konzepte entwickelt, die nicht nur für sie selbst, sondern für alle Menschen bereichernd sein können.“

Ist die aro Community damit dem „Kein Bock Club“ zuzurechnen? Ich bin mir nicht sicher. Einerseits schön, dass die aro Community separat genannt wird, andererseits erscheint es mir ein wenig wie die Reproduktion von Ausschlüssen. Statt Aros zu vereinnahmen, wie oft an der ace Community bemängelt, dürfen sie gar nicht mitspielen oder sind nur als Stichwortgebende erwünscht.

Es erschien wohl auch nicht opportun, beispielsweise auf die Liste von Kroschel und Baumgart in „(Un)Sichtbar gemacht“ zu verweisen, die neben queerplatonischen Beziehungen noch andere Optionen wie Soft Romo nennt.

Fazit

Insgesamt fühlt es sich beim Lesen nicht so an, als hätte da wer großen Bock auf die a*spec Community. Dazu sind wir eventuell nicht cool genug – wir sind insgesamt eher nerdig drauf und haben Mastodon statt Tiktok! Außerdem posaunen wir manchmal Informationen über loveless und aplatonische Personen raus, die nicht zum Plädoyer für die kuschelige Friendzone passen.

Konzepte abgreifen geht also, aber die Quellen und damit die jahrelange Wissensproduktion in der Community zu würdigen, scheint nicht nötig. Was es dann erschwert, sich mit allen anderen im „Kein Bock Club“ zu verbünden, die nicht ace sind, sondern aus anderen Gründen dauerhaft oder zeitweilig keine oder wenig oder selten Lust auf Sex haben. Obwohl es dringend nötig wäre.

Zurück bleibt ein ambivalentes Gefühl: Ein informatives Buch, das ein wenig Solidarität vermissen lässt. Gefühlt irgendwie typisch für die Zeit seit 2020.

Lesefutter: „Ein unvollständiger Mann“ – Exploitation statt Repräsentation

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Eines vorweg: Jedes Mal, wenn ich irgendwo LGTBQIA+ statt LGBTQI lese oder im Rahmen einer Veranstaltung explizit Asexualität und Aromantik erwähnt werden, mache ich innerlich jauchzend einen (ebenso innerlichen) Hopser. Manchmal geschieht beides auch sicht- und hörbar. Ich bin dermaßen ausgehungert nach Repräsentation und dankbar für Krumen, dass ich mich zuweilen dafür schäme. Zwar gibt es hin und wieder Artikel über Aspec-Erfahrungen, doch meist berichten sie über beide Identitäten im Format: „Wir haben hier ein interessantes Einzelschicksal, schaut, die Person ist trotzdem ein Mensch, sie erklärt uns nun ihre sonderbare Existenz“. Das ist oft ehrlich um Aufklärung bemüht und lieb gemeint, aber nicht das, was bitter nötig ist: Stories und Erzählungen, in denen Personen einfach aspec sind und ihr Erleben dadurch beeinflusst, aber nicht komplett definiert wird. Ich möchte asexuelle Raumschiffpilot*innen, Vampirjäger*innen, Bäcker*innen und Präsident*innen, Figuren, die selbstverständlich als sie selbst Geschichten erleben, ihre Welt prägen statt zu reagieren und mehr sind als ein kurioser Einzelfall. Und die auch allosexuellen Personen zeigen, dass unser aller Leben besser wird, wenn wir normative Vorstellungen von Sexualität und Beziehungen (nicht nur romantischer Art) hinterfragen.

Hintergrundinformationen zum Roman

Dementsprechend gespannt bin ich, worum es sich beim Roman „Ein unvollständiger Mann“ von Ralf Gerhardt handelt. Vorweg gab’s von der Promoagentur ein Interview, in dem zu lesen ist:

„Herr Gerhardt, Ihr erster Roman ‚Ein unvollständiger Mann‘ dreht sich um Asexualität, ein bisher wenig diskutiertes Thema. Was hat Sie dazu inspiriert?

Gerhardt: Ein Artikel in der ZEIT (…) hat mich darauf gebracht (…). Ich (…) war (…) beeindruckt, mit welcher Wucht diese Orientierung in den Alltag der Betroffenen grätscht.“

Das tut weh. Meine Orientierung grätscht nicht in meinen Alltag als aspec Person, der Alltag mit seiner Allo- und Heteronormativität selbst ist das Problem. Er lässt sich ändern, meine Orientierung nicht. Und statt unter ihr zu leiden, strebe ich die Änderung des Alltags an. Doch, so lässt uns die Agentur im Anschreiben wissen: „Wie gründlich der Autor recherchiert hat, ist seiner Coming-of-Age-Geschichte anzumerken.“

Erste Eindrücke

Es ist ungerecht, ein Buch dafür zu kritisieren, was es nicht ist. Angesichts der erwähnten, gründlichen Recherche muss ich allerdings annehmen, dass die meisten ihrer Ergebnisse keine Spuren im Buch hinterließen. Vielleicht beschränkten sich die Quellen auch nur auf die erwähnten Standard-Interviews mit asexuellen Personen, deren Autor*innen individuelles Leid betonen. Das allerdings würde keiner gründlichen Recherche entsprechen Vielleicht war es aber auch eine bewusste Entscheidung, die dem Autor selbstverständlich zusteht.

Mir ist nicht bekannt, ob Ralf Gerhardt, der „Ein unvollständiger Mann“ schrieb, selbst asexuell ist, auf meine Nachfrage erhielt ich keine Antwort. Falls nicht, ist die Entscheidung, die Geschichte aus Sicht des asexuellen Kolja Wolf in Ichform zu erzählen, mindestens gewagt, meiner Meinung nach aber geradezu dreist. Dass auch allo Person über Asexualität und asexuelle Figuren schreiben, ist notwendig und willkommen. Als ace Person zu schreiben ist jedoch, wie bei allen anderen Identitäten, die nicht der eigenen entsprechen, zum Scheitern verurteilt, solange es keine explizite asexuelle Beteiligung, kein Feedback und kein Lektorat durch Aspecs gibt. Und falls Ralf Gerhardt doch ace sein sollte, hoffe ich, dass er bald Anschluss an die Community findet und neue Perspektiven kennenlernt.

Der asexuelle Erzähler Wolf ist eine wenig komplexe, passive Figur, die zu Beginn der Handlung bewusst emotionalen und körperlichen Abstand zu anderen hält. Seine Attitüde ähnelt eher einem gloomy Teenager als einem Mittdreißiger. Da ihm eine aggressive, „männliche“ Sexualität fehlt, sieht er sich als den titelgebenden, unvollständigen Mann. Dieser empfundene Makel bestimmt jegliche Interaktion mit anderen Figuren. Ihnen gegenüber verhält er sich egoistisch, launisch, rüde und, zumindest in der Vergangenheit, teils gewalttätig. Erst durch Zufälle, amatonormative Liebe und Aufklärung durch seine allo Bezugspersonen gelangt er zu einem apologetischen Umgang mit seiner Sexualität und ist am Ende sozusagen „trotz allem“ ein Mann. Die allo-Figuren sind wie er unsympathisch und dazu übertrieben sexualisiert. Sie sind Karikaturen, die immerzu flirten müssen, wenn sie eine Person attraktiv finden und sich geistig auf einem permanenten Junggesell*innenabschied befinden.

Paralleluniversum?

Die im Text vorherrschenden Gespräche sind auch durch die Erzählstruktur des Romans ermüdend. Sie beschränkt sich auf Unterhaltungen an wechselnden Orten und ist als das Gegenteil von „show, don’t tell“ durchweg selbstreferenziell, ja hermeneutisch. Unklar bleibt, weshalb Wolf zwar den Begriff „asexuell“ kennt, ihn aber trotz eigener Besessenheit von mangelndem Interesse an Sex und allen daraus entstehenden Problemen nie recherchierte. Das Internet existiert, es werden Mails geschrieben und am Ende tauchen Prideflaggen in asexuellen Farben auf, über deren Design in unserer Realität 2010 online abgestimmt wurde.

Wenn Wolf sich im Internet umgesehen hätte, wäre ihm aufgefallen, wie wenig besessen von Nabelschau und Leid das Leben von Aces ist. Dass sie nicht die ganze Zeit darüber brüten, wie seltsam sie sind, sondern stattdessen eigene Ideen von erfüllten Beziehungen haben. Dass sie sich und ihre Umwelt reflektieren können, ohne sich selbst abzuwerten und andere zu meiden. Dass Queerness, anders, als die schwulen Charaktere im Buch nahelegen, nichts ist, was jemand tut, nämlich immerzu queeren Sex haben (wollen), sondern eine Art der Abweichung von gesellschaftlichen heteronormativen, sexistischen, patriarchalen Normen, die auch uns Aspecs mit anderen Identitäten verbindet. Und vielleicht auch, dass die Sexualisierung von Queerness an sich Teil eines Weltbilds ist, dass Heterosexualität im Gegensatz zu ihr als „gesund“ und „normal“ betrachtet und allen schadet.

Auch davon ist in „Ein unvollständiger Mann“ nichts zu lesen. Asexualität ist nur ein Auslöser von Konflikten, deren Lösung einer asexuelle Person selbst nicht möglich ist. Der übergriffige Freund, der Wolf einst nicht konsensuellen Sex unter Drogeneinfluss aufzwang, weiß am Ende mehr über Asexualität als der asexuelle Wolf selbst. Ahnungslos wird die einzige asexuelle Figur durch eine Handlung geredet, die nicht genügend Camp und Humor besitzt, um das übergroße Drama einer Telenovela zu bieten, aber ähnliche dramaturgische Kniffe bemüht. Sie ist zu szenisch abgefasst, um als Roman zu gefallen oder durch Beschreibungen von Personen, Orten und Gefühlen zu unterhalten. Dazu fehlt jede gesellschaftliche Dimension, die Figuren haben Berufe, aber keine Identität und befinden sich abseits zeitgenössischer queerer Diskurse fest in konservativen Ideen von Männlichkeit und Heteronormativität verhaftet, die sie durch oberflächliche Exzesse nur verstärken.

Fazit

Ich weiß nicht, für welches Publikum das Buch geschrieben wurde. Falls für Aspecs, sollten wir uns auch angesichts fehlender Repräsentation nicht mit dem hier Gebotenen zufrieden geben. Wurde es für Allosexuelle verfasst, setzt es das übliche othering im Protagonisten Wolf selbst fort und lässt die Möglichkeit, auf über 350 Seiten nicht nur über Asexualität, sondern Sexualität an sich aufzuklären, ungenutzt verstreichen. Nicht einmal der Unterschied zwischen Libido und sexueller, romantischer und anderen Arten von Anziehung wird, und sei es in Form eines Glossars am Ende des Bandes, dargelegt.

Als aspec Person stachelt mich das mehr an, als dass es mich aufbringt, ich weiß ja, wie vieles noch klargestellt werden muss. Zum Beispiel, dass ein Leben als asexuelle Person zwar durch Allo- und Heteronormativität erschwert wird, Asepcs aber mehr zur Gesellschaft beizutragen haben als die Rolle des seltsam Anderen, die andere in ihrer vermeintlichen Normalität bestärkt, indem sie „trotzdem“ wie Allos leben wollen und das freundlicherweise manchmal unter Mithilfe viel entspannterer, offenerer Allos dürfen. Wir haben nicht einfach nur einen geringeren Anteil an gesellschaftlichen Normen entsprechenden Beziehungen oder lehnen sie ab, wir queeren sie. Und diese transformative Kraft der Queerness ist erstaunlicherweise das, was mir in diesem Buch, einer Exploitation Fiction über Asexualität, mehr als andere fehlt. Eine Geschichte, die darauf nicht eingeht, ist nicht automatisch misslungen, nur weil sie diese, und in diesem Fall explizit meine, Erwartungen nicht erfüllt. Doch was hier stattdessen erzählt wird, reicht nicht aus, um zu überraschen und vergessen zu lassen, was fehlt.

Ralf Gerhardt: Ein unvollständiger Mann. Erschienen 2023 im Selbstverlag, 356 Seiten. Hardcover-ISBN 3347907035 (24,90 €), Softcover-ISBN 3347907027 (16,90 €)

Bestellbar unter anderem bei tredition.

Diese Rezension wurde verfasst von: Lennart. Wir haben dafür eine elektronische Kopie gratis erhalten.

Tief ist der Brunnen der Vergangenheit: „Flecken“ von Christian Meyer

Im Original deutschsprachige Romane mit Protagonist*innen aus dem asexuellen Spektrum sind rar gesät. Im vergangenen Jahr kam mit Flecken von Christian Meyer erfreulicherweise einer hinzu.

Die Ausgangssituation erinnert vage an Wir kommen von Ronja von Rönne – der Protagonist Erik, aufgewachsen in einem kleineren Ort und mittlerweile längst in einer Großstadt wohnhaft, erhält die Nachricht vom Tod seiner Jugendfreundin Neele. Der Heimatort irgendwo in Schleswig-Holstein wird stets nur als „Flecken“ bezeichnet und gibt dem Buch seinen Titel. Die Geschichte wird nicht chronologisch erzählt: Auf ein Kapitel in der Gegenwart (Neeles Beerdigung und die Tage danach) folgt jeweils eins, das Eriks und Neeles gemeinsames Leben nachzeichnet und zwar rückwärts, von ihrer letzten Begegnung bis in ihre frühe Kindheit. Dieser Aufbau macht den Roman sehr spannend, aber auch schwierig zu lesen. Vieles wird erst später verständlich, bei manchen Details wird dem Leser erst später klar, dass sie wichtig waren. Dadurch wird Eriks Situation nachvollziehbar; er erhält Informationen, die Neele und ihn selbst betreffen, nach und nach, seine Reise in die Vergangenheit gestaltet sich immer wieder schmerzlich und unbequem.

Neele hat sich das Leben genommen, nachdem Erik etwa zwanzig Jahre lang nichts mehr von ihr gehört hatte. Hätte er sie retten können? Ist man überhaupt verpflichtet, andere zu retten, oder ist jeder Mensch für sich selbst verantwortlich? Diese Fragen ziehen sich durch den gesamten Roman. Neele hat Dinge von Erik erwartet, die er ihr nicht geben konnte. Die unterschiedliche sexuelle Orientierung war dabei nur eines von mehreren Problemen. Ihr Leben lang haben sie einander sehr nahegestanden, ihr Verhältnis ist immer komplizierter geworden und schließlich hat Erik den Kontakt abgebrochen, da sie sich in einer Sackgasse befanden. In den Tagen nach der Beerdigung erfährt er zwei lang verschwiegene Geheimnisse, die er vielleicht immer geahnt hat.

Sexuelles Begehren ist Erik immer ein Rätsel gewesen. Seine Empfindungen und Erfahrungen dürften für viele Menschen aus der Community nachvollziehbar sein. Menschen schön, aber nicht heiß finden, nicht wissen, wie man sich verhalten soll, wenn man angebaggert wird – derartige Ace Moments werden vom Autor treffend geschildert. Dabei hat die Hauptfigur selbst eigentlich kein Bedürfnis nach einem Label und macht Dinge generell gern mit sich selbst aus. Es ist sein Umfeld, das ihn mit Erwartungen unter Druck setzt und Erklärungen von ihm verlangt. „Wenn man asexuell ist, dann ist es sicher das Schlimmste, dass die meisten Leute das nicht verstehen, entsprechend engstirnig reagieren und ständig damit nerven, weil sie einen unbedingt in eine Schublade stecken wollen und einfach nicht akzeptieren wollen, dass es so was auch gibt.“, sinniert der fast achtzehnjährige Erik. Da hat Neele ihn gerade mit den Ergebnissen ihrer Internet-Recherchen konfrontiert. Wir befinden uns etwa im Jahr 2000, daher ist es historisch stimmig, dass die Typen von A bis D aufgezählt werden, die damals angesagt waren und heute längst als veraltet gelten. Das Wort „Aromantiker“ fällt ebenfalls – hat man es damals schon verwendet oder haben wir es hier mit einem kleinen Logikfehler zu tun? Jonas Trochemowitz könnte es wohl genauer sagen. 🙂

Als Mann kann er es eigentlich nie richtig machen, zu diesem Schluss kommt Erik immer wieder. Entweder wird ihm pauschal Lüsternheit unterstellt („Frauen denken, ich schaue ihnen auf den Hintern und will sofort mit ihnen schlafen, ich weiß am Strand nie, wohin ich gucken soll.“) oder er ist ein Weichei bzw. homosexuell. „Schwul“ wird im Flecken gern als Schimpfwort verwendet, als Anlass reicht schon die Tatsache aus, dass ein Mann keinen Alkohol trinkt. Neele kommt zwar als Jugendliche im Rahmen eines Workshops mit Ideen von Judith Butler und Simone de Beauvoir in Kontakt, schafft es aber nicht, aus ihren Verhaltensmustern auszubrechen, mit denen sie sich selbst schädigt und deren Ursprung der Leserin im Laufe des Romans klar wird. Sie unterhält wechselnde sexuelle Beziehungen zu häufig wesentlich älteren Männern und leidet immer wieder, wenn ihre Partner sie verlassen. Erik schwärmt sie von der „Macht des Begehrtwerdens“ vor: „Oft fühlt sich alles taub an, aber in solchen Momenten fühle ich mich.“ Dass ihr Kindheitsfreund sie nicht begehrt, wurmt sie, gleichzeitig möchte sie von ihm beschützt werden. Der appelliert an ihre Eigenverantwortung und möchte sich generell seine Neutralität bewahren, niemanden verurteilen und selbst nicht in Schubladen gesteckt werden.

Während seines Aufenthalts im Flecken wird er immer wieder gefragt, warum er keine Partnerin habe. Dabei haben ihn seine Eltern ebenso wie sein bester Freund Bruno stets bedingungslos akzeptiert, Gleiches gilt für seine beiden besten Freundinnen in seiner Wahlheimat Wien, ein lesbisches Paar mit Kinderwunsch. In einer idealen Welt wären Erklärungen und Outings gar nicht notwendig, dies ist eine Botschaft, die der Roman vermittelt. Keine einfache, aber durchaus eine empfehlenswerte Lektüre.

Christian Meyer: Flecken. Erschienen 2022 im Verlag Voland & Quist GmbH, 304 S.

Endlich auf Deutsch: Loveless von Alice Oseman

Nachdem wir 2020 die englische Version von Alice Osemans Loveless besprochen hatten, erreichte uns 2021 vom Loewe-Verlag eine erfreuliche Nachricht. Das Buch sollte auf Deutsch erscheinen. Ob AktivistA ins Verzeichnis nützlicher Adressen dürfte?

Natürlich haben wir zugestimmt. Und sogar ein Belegexemplar bekommen! Dies ist also das erste Mal in meinem Leben, dass ich (Carmilla) ein Belegexemplar rezensiere. (Eine weitere Vergütung dieser Rezension ist nicht erfolgt. Wir wurden außerdem nicht um Werbung gebeten.)

Ganz kurz noch mal: Worum geht es bei Loveless?

Die achtzehnjährige Georgia ist zum Schulabschluss noch ungeküsst. Im ersten Semester an der Uni will sie dringend etwas daran ändern. Schließlich möchte sie nicht Loveless sein — ohne Liebe. Dazu bittet sie ihre Mitbewohnerin Rooney um Rat. Alles gerät außer Kontrolle, als Rooney auffällt, dass Georgias bester Kumpel in sie verliebt ist. Rooney ermuntert Georgia, da etwas draus zu machen, obwohl Georgia (noch?) gar nicht zurückverliebt ist.

Kleine Kritteleien

Es gilt zu beachten, dass die Rezensentin häufiger dafür bezahlt wird, anderer Menschen Texte zu lektorieren oder korrigieren. Persönlich hätte ich als Lektorin um weniger Kursive und Großbuchstaben gebeten. Zudem lässt der Buchsatz im Print an Sorgfalt zu wünschen übrig.

Was erwartet die Lesenden?

Ihr bekommt eine asexuell-aromantische Selbstfindung:

Ich hatte mein ganzes Leben damit verbracht zu glauben, dass romantische Liebe auf mich wartete. Dass ich sie eines Tages finden würde und dass ich dann endlich glücklich sein würde.

So was habe ich auch mal geglaubt. Insofern ist das nicht nur ein Buch für Aces, sondern auch für solche, die vielleicht einen Stups in die Richtung aro und/oder ace brauchen. Und zuletzt für alle, die Romane mögen, in denen Freundschaften gefeiert werden.

Dazu serviert Oseman Irrungen fast Shakespear’schem Ausmaßes, viel Humor, kluge Gedanken über die Natur der Liebe und ein völlig unromantisches Happy End.

Der Stil ist locker-flockig. Oseman beherrscht ihre Spannungsbögen und zeichnet außerdem liebevoll runde Figuren, die ich einfach umarmen will.

Auch an der Qualität der Übersetzung ist nicht zu kritteln. Die lässt nicht ahnen, dass ein englisches Original dahintersteckt.

Formalia

Alice Oseman: Loveless: Wann endlich beginnt meine Story? Erhältlich überall im Buchhandel unter der ISBN 978-3-7432-1219-0 (Taschenbuch) oder ISBN 978-3-7320-1751-5 (ePUB).

Für mehr: Vorstellungsseite des Verlags.

 

Noch mehr Lesefutter: „Ace“ von Angela Chen

Vor einem guten Monat erschien auf Englisch ein Buch von Angela Chen namens „Ace – What Asexuality Reveals About Desire, Society and the Meaning of Sex“ (Beacon Press Boston, ISBN 978-0-8070-1379-3).

Da ich mir ja zur Aufgabe gemacht habe, beim Thema Asexualität wenigstens halbwegs auf de aktuellen Stand zu sein, habe ich es gekauft, und als Abschluss der Ace Week für euch eine Meinung dazu verfasst.

Wobei ich sagen muss, dass mich sonst das Cover mit diesen Flecken (Buntpapierfetzen wie früher im Kunstunterricht?) ein wenig abgeschreckt hätte. Mit dem Inhalt hat es jedenfalls erst nach einer Pause zum Nachdenken zu tun.

Kurze Inhaltsübersicht

Der Text liest sich sehr flüssig. Ausgehend von eigenen Erfahrungen hat Angela Chen einige Dutzend andere Aces interviewt und deren Geschichten in Fragestellungen an die US-Gesellschaft verwandelt:

Schadet die allgemeine Erwartung, dass Männer immer super versessen auf Sex seien, genau dieser Personengruppe?

Hat uns die sexuelle Befreiung uns wirklich freier gemacht?

Inwieweit haben wir Überschneidungen mit Vorurteilen gegenüber rassifizierten Menschen, Menschen mit BeHinderung, und religiösen Stereotypen?

Was bedeutet eigentlich „romantisch“? Wo ist die Grenze zwischen Romanzen und Frenudschaft? Und wieso ist Sex ein Maßstab bei der Bewertung, wie wichtig eine Beziehung sein darf?

Was ist „compulsory sexuality“ (Sexnormativität) und was ist hermeneutische Ungerechtigkeit? Wie verhindern unsere Vorstellungen von Sex und dem, was Menschen wollen, dass Menschen eben nicht das tun (oder lassen), was sie möchten?

Das alles bereitet Chen informativ und verständlich auf.

Sehr tröstlich ist auch die Einflechtung der verschiedenen Lebensgeschichten. Obwohl ich genug Aces kenne, tut es immens gut, ein paar Fragen und Probleme gespiegelt zu sehen, die ich auch schon hatte.

Mehr Kompendium als Erleuchtung

Der Witz ist, dass ich dieses Buch nicht unbedingt gebraucht hätte, und da werden manche ähnlich empfinden. Was Angela Chen zusammengetragen hat, wissen halbwegs aufmerksame Beobachtende der asexy Blogosphäre schon.

Ich selbst fand also in dem Buch sehr wenig neue Anstöße, sondern eher eine Zusammenfassung von klugen Gedanken, die ich bei oder dank der Asexual Agenda schon gelesen habe. Damit will ich Angela Chens Fähigkeit, pointierte Fragen zu stellen und Dinge zu beobachten, gar nicht in Abrede stellen. Es wird Menschen im asexuellen Spektrum geben, die diese Diskussionen nicht so genau mitverfolgt haben oder viel später dazugestoßen sind, und die dieses Buch dann umso mehr schätzen werden. Außerdem hat eine gedruckte, zitierfähige Zusammenfassung von Online-Diskussionen immensen Wert.

Was ist eigentlich die Zielgruppe?

Einerseits steht das erklärte Ziel des Buchs schon auf dem Cover: Wie können die Lebensgeschichten asexueller Menschen helfen, besser zu verstehen, wie die westlichen Gesellschaften in Bezug auf Sex ticken? Was können wir alle gewinnen, wenn wir Dinge aus einer asexuellen Perspektive betrachten?

Das heißt, die Zielgruppe sind vornehmlich Menschen, die sich nicht als ace begreifen.

Andererseits bin ich mir nicht sicher, ob es gelungen ist, diese Zielgruppe anzusprechen.

Was es aber zu tun scheint, und da sind Sara von the notes which do not fit und ich einer Meinung mit diversen Menschen, die bei Amazon Rezensionen hinterlassen haben: Es ist hilfreich für unentschlossene Menschen und solche, die ein nagendes Unbehagen mit den Erwartungen spüren, die uns die Sexnormativität aufbürdet.

Brauche ich das?

Kommt drauf an.

Wer sowieso schon alles zum Thema gelesen hat und sich mit der eigenen Selbstbeschreibung als ace wohlfühlt, braucht es nicht unbedingt und folge weiterhin den relevanten Blogs.

Wer einen kurzen und knackigen Einstieg in die aktuellen Debatten sucht, ist hier genau richtig.

Ebenfalls sehr sinnvoll erscheint es für jene, die überlegen, ob sie sich ins asexuelle Spektrum verorten sollen oder wollen. Wir finden hier all die Selbstzweifel und Einwände, die in dieser Findungsphase am drängendsten sind.

Insofern hat Angela Chen auf jeden Fall etwas getan, das mich das Hütchen lüpfen lässt: Ein Ratgeberbuch verfasst, ohne einen einzigen Ratschlag zu verteilen.

 

Eine etwas andere Meinung zum Thema hat Ace Admiral.

 

Crosspost bei carmilladewinter.com, aktivista.net und Amazon.